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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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Nr. 18 (Paris)
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https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0275
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J u

35. JAHRGANG

V

Wenn der Polizist seinen Stab hebt, und
die Wagen stehenbleiben, gehen die ans den
Gehsteigen gestaut gewesenen Fußgänger auf-
einander zu; das sieht aus, als tanzten sie
Duadrille. Herr Chenove wenigstens hatte
diesen Eindruck, als er an der Ecke der Place
de la Concorde die Rue Royale überquerte.
Und er erinnerte sich der Zeit — es war etwa
dreißig Jahre her —, wo er jenseits dieses
Platzes in den Salons des Faubourgs „Lan-
ciers" getanzt hatte. Damals trug er ein
Monokel an einem breiten, schwarzen Band,
obzwar er ausgezeichnet sah (aber daS
Schwarz des Bandes machte sich sehr gut aus
der weißen Weste); heute trug er kein GlaS,
obzwar seine Augen immer schwächer wurden.
— Lanciers! — Wie weit lag das zurück?
Fast so weit wie die Pavane!

Für gewöhnlich hütete sich Herr Chenove,
mit Begeisterung von vergangenen Zeiten zu
roden, ja überhaupt nur an sie zu denken.
Jedes Nachtrauern macht alt. Es gibt nur
eine einzige Art, jung zu bleiben: man muß
den Augenblick voll genießen. Ein Jüngling,
den das Leben nicht freut, ist ein Greis; ein

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Greis, der naiv die Freuden des Tages zu
genießen versteht, ist ein Jüngling.

Nach den Lanciers hatte Herr Chenove
Cake-Walk getanzt, dann Dalfe-hesttation,
dann Matchiche, dann Tango, dann Fox-
Trott, dann Blues und schließlich Charleston.
Nachdem er im grauen Zylinder, den Feld-
stecher am Riemen, auf die Stühle des Sattel-
platzes in Longchamps gestiegen war, hatte er
in VincenneS das große Radrennen mit-
gemacht; dann die AutoracingS an der
Sarthe, dann die ersten Flüge; dann die
großen Boxmatches; jetzt interessierte er >ich
nur mehr brennend für die großen Rugby-
kämpfe in ColonrbeS. Es gibt gewiß e Dinge,
die man wissen muß: 1900 war eS Vorschrift,
inS Palais de Glace eislaufen zu gehen, jetzt
muß eö St. Moritz fein. Er hatte zwei
Epochen gekannt, wo es zum Bon ton gehört
hatte, in einein Skating-Ring Rollschuhe zu
laufen. Vor dein Krieg war er Meister-
fechter gewesen, und inan kann heute noch in
den kleinen Schießbuden bei Gastonne Renette
eine schöne Karte von ihm neben der des
Grafen Clary ausgestellt sehen.

DaS alles ist unerläßlich, nicht wahr? Man
darf nicht einrosten. Ani bequeiiisten hat man
es noch mit seinem Äußern. Ein Mann, der
auf sich hält, wird sich selbstverständlich immer
nioderne Anzüge bestellen und seinen Schnurr-
bart stutzen lassen, wie es sich gehört. Es
wird niemandem einfallen, sein Haar in eine
Bürste geschnitten oder am Hinterkopf einen
Scheitel zu tragen. Aber selbst die Schläge
des Herzens müssen sich der Zeit anpajjen.
Ntan muß seine tiefsten Neigungen radikal
auSrotten, um in jeder Generation neue auf-
keimen lassen zu können. Eine ganze Litera-
tur, eine ganze Kunst muß man aufhören zu
lieben. Und daS ganz mühelos, fast ohne es
zll merken, blm diesen Preis bleibt man
immer zwanzig Jahre alt.

Ja! Leicht Ist das freilich nicht. Deshalb
steht man auch immer noch Greise.

blm so mehr, als das noch lange nicht alles
ist, da sind auch noch — und vielleicht in
allererster Reihe — die Frauen.

lim jung zu bleiben, genügt eS nicht etwa,
sich immer gleich intensiv für sie zu Inter-
essieren, noch, sie immer aus der gleichen
Altersklasse zu wählen (das versteht sich von
selbst) — man darf sie auch nicht immer auf
dieselbe Weife lieben. Darin liegt vielleicht die
Ha u p ts chi vievigkeit.

War man früher in einer Droschke durch
die Straßen geholpert, stog man jetzt per
Aeroplan nach London; hatte man früher im
Holzfeuer des Kamins herumgestochert, holte
man sich jetzt die nötige Wärme bei der starren
.Harmonika der Radiatoren; man bediente sich
eines Lautsprechers und einer Kamera; ja
mehr noch: hatte man früher sechs beflissene
Dienstboten gehabt, mußte man jetzt, an
^.agen, wo das Vermittlungsbüro keinen ein-
zigen dienstbaren Geist zu vergeben hatte,
selbst den elektrischen Staubsauger bedienen.
Aber das alles ist nichts: man muß auch seine
Art, die Frauen zu lieben, von Grund aus
ändern. —

Bedenkt doch! Herr Chenove hatte eine
Zeit gekannt, wo man sich einer Frau nur
mit dem Hut in der Hand näherte, wo man
ihr im Autobus seinen Platz überließ, wo man
ihr einen Handschuh stahl, wo sie eines harm-
losen Kusses auf den Nrund wegen, bei einer
Spazierfahrt durch das Bois alle Vorhänge
des Fiakers herunterließ, wo die meisten
jungen Mädchen an ihrem Hochzeitstag noch
sehr überrascht waren, wo einem das Herz
stehen blieb, wenn inan für den Bruchteil
eines Augenblicks den Ansatz ihrer Wade Zti
Gesicht bekam! — Herr Chenove mußte
gründlich umlernen.

Er hatte umgelernt. Leicht war es nicht
gewesen. Aucb jetzt noch manchmal, wenn er
eine Frau auf der Straße ansprach, was oft
genug vorkam, tat er dies mit einer alt-

TristanBernard

R. G r 0 ß m a n 11
Register
Rudolf Großmann: Tristan Bernard
Emery (Emerich) Kelen: Briand
André Birabeau: Tadellose Beine
 
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