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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0374
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Am Abend, zu Hause, ließ er die bedeutend-
sten Ereignisse der Schulzeit an sich v^rüber-
ziehen. Aus diesem Examen ging er völlig ent-
mutigt hervor. Aber die Stärke seiner Liebe
verlieh ihm den nötigen Mut, und er sührte sein
Leben aus dem eingeschlagenen Weg fort, am
Ziel stand der Besitz seiner schönen kleinen
Freundin.

Nach einem Monat gequälter Höflichkeiten
und Schilderungen bezaubernder Länder pflanzte
Alice sich an einem Donnerstag bei dem Garde-
robeauSgäng vor ihrem Partner aus, legte die
Hand aus seine Schulter und sagte: „Ich weiß,
daß Sie mich lieben, mein kleiner Varlin, das
sieht man." Sie lächelte liebenswürdig und der
Jüngling errötete vor Freude. Er ging nach
Hause und verbrachte den Abend in einer Art
Verzückung, die Stimmen seiner Eltern drangen
nur von ferne an sein Ohr. blnd selbstverständ-
lich schlief er schlecht.

„Wo wollen Sie eigentlich hinaus?" fragte
Alice ihn am übernächsten Tag.

„Aber... Sie heiraten ... Meine Eltern..."

Das junge Mädchen schnitt ihm kurz daö
Wort ab:

„Zunächst sind Sie viel zu jung, mein lieber
Varlin, und dann habe ich mehr gesehen als
Sie; wir würden uns nicht zusammen ver-
tragen. Wenn Ihr Glück möglich werden soll,
verstehen Sie, müssen Sie mehr wissen als ich.
Das ist doch logisch."

blnd zwischen dem jungen Mann und der
Familie, in die durch eine achtzehnjährige
Engländerin Unruhe hineingetragen wurde,
entspann sich ein Kampf; Vater und Mutter
des Jünglings waren wenig geneigt, ihn auf
dem Weg der fernen Abenteuer zu ermutigen.
Es ist unnötig, hier die Argumente anzu-
führen, mit denen die beiden Lager sich be-
kämpften. Am Tisch, auf dem die Speisen
ihren Geschmack verloren, spitzte sich der
Konflikt täglich zu.

Wenn Varlin jetzt Alice sah, zeigte er eine
umwölkte Stirn. Aus Zartgefühl schwieg er
über die Familienstreitigkeiten.

„Ich fahre fort", sagte er eines Tages.

Alice sah ihn mit ihren schönen ruhigen
Augen an.

„Ich fahre fort", wiederholte der junge
Mann, „ich sage es Ihnen nur kurz, Alice,
ohne Umschweife, auf Ihre Art, und wenn ich
zurückkomme, werden Sie meine Frau."

Und das junge Mädchen neigte sich vor
und reichte ihm ihre Lippen zu einem Kuß,
der sie kaum streifte. Ganz nahe seinem Ohr
sang sie halblaut das schöne Lied:

Ah Mandalay ... Mandalalay ...

Und das Lied wies zart auf die zukünftige
Intimität ihrer gemeinsamen Erinnerungen hin.

Dann verstrichen Jahre.

-s

Die aus Tonkin zurückkehrenden Mann-
schaften der „Legion" warteten im Fort Saint-
Jean auf die Minute der Abfahrt zu der von
ihnen bezeichneten Heimatstadt.

Ungefähr zehn Soldaten standen da mit
dem roten „Käppi" der Legion, dein blauen
Kittel und den blauen Hosen der Kolonial-
Jnfanterie. Gelb und abgezehrt drehten sie die
Zigaretten zwischen ihren mageren, vornehmen

Fingern. Europa jedoch durchdrang sie mit
einem Mal wie eine balsamische Luftwelle. Sie
wurden alle von den wiedergefundenen, ge-
liebten Einzelheiten des europäischen Lebens ein-
gefangen: ihre Begeisterung drückte sich in

ungeschickten Bewegungen aus.

Varlin, Soldat im i. Regiment, erhielt wie
die anderen eine Fahrkarte und kehrte nach
Paris zurück, ohne das Glück erobert zu haben,
denn es genügt nicht, fortzufahren, in der
Absicht, das Glück kennen zu lernen. Nachdem
er seinen Eltern davongclaufen war, um daS
harte Leben in den verschiedenen Berufen, wo
er immer nur ein Eindringling war, kennen-
zulernen, hatte er schließlich, um seine Seele
zu beruhigen und seinen Magen zu befriedigen,

(Fortsetzung Seite 381

VON HERBERT STRUTZ

Sie steht vor sich, ergriffen und entblößt
und ihre Augen haben keinen Grund.

Ihr Blick, der heftig, gierig loSbricht, stößt
voll Glück nach ihrem reif geschwellten Mund.

Sie leuchtet, blnd ihr Blut fließt süß und weich.
Sie sehnt sich nackt in Liebesheiligtume
und träumt: wie eine weiße, schöne Blume,
so herrlich läge sie auf einem Teich.

Dann schließt sie ihre dicht befransten Lider
und ihre Haut riecht äußerst süß nach Cremen.
So würde sie sich sehr vor jemand schämen...
Doch ganz allein belauscht sie ihre Glieder.

^ u r n p a u [ e

R u d. S ch l i ch r c r

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Register
Herbert Strutz: Mädchen im Spiegel
Rudolf Schlichter: Turnpause
 
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