Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

DOI Heft:
Nr. 27
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0419
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
J U G E

35. JAHRGANG

N D

1930 / N R. 27

A lii Strand

M a x B c ck in a n n

Natürlich gehören Illusionen nicht ans Meer
In der Stadt läßt sich irn Schatten der Häuser
mit Schönheitspflästerchen von Technik und
Kosmetik die Hälfte aller Häßlichkeit verbergen.
Das Meer aber sieht Illusionen und die dazu-
gehörigen Menschen nackt. Für den Städter ist
das eine Sensation. Vor der ümarmung des
Meeres entdeckt jede Frau einmal im Jahr ihre
Mädchenhaftigkeit. Gewiß, ihre Masseuse, ihr
Arzt, ihr Geliebter kennen sie auch so. Aber
alle drei vergessen gewöhnlich die Tatsache über
dem Zweck. DaS Meer nicht.

Hier am Strand ist ein Plattfuß ein Platt-
fuß, Sommersprossen sind Sommersprossen.
Fettmassen sind Fettmassen. Heute morgen im
Hotel war die sandblonde Dame, mit dem dicken
Bauch, die sich eben ins Wasser wirft, ein
jchlankeS Mädchen im Schüße einer unsicht-
baren Gummihülle. Das amerikanische Girl
aus Zwickau, dessen winziges,'hinter Locken und
Riesenhut verborgenes Gesicht mich beim Früh-
stück in eine leise Verliebtheit gelächelt hat, hat
unter der strengen Badekappe ein leeräugiges
Puppengesicht.

V O N L. RHAN

Ich liege im heißen Sand und freue mich
über die undiplomatische Offenheit des Strandes.
Illusionen sind mir grenzenlos unsympathisch.
Mein armer Freund Niko dagegen, der neben
mir im Sand liegt, ist sein ganzes Leben lang
nicht nur der Sklave seiner eigenen Illusionen,
sondern auch der der anderen gewesen. Wenn
er zum Beispiel vor drei Jahren die gefräßige
Illusion seiner kleinen Karola nicht dauernd mit
neuen Lügen gefüttert hätte, läge sie jetzt neben
uns am Strand von Binz. Aber die Illusionen
sind bei Niko zum Komplex geworden. Man
kann das eigentlich nur verstehen, wenn man
ihn kennt. Wie alle Menschen, die von anderen
nie ganz ernst genommen werden, nimmt er
selbst sich unerhört ernst, ünd da er in seiner
Studentenzeit der Pechvogel war, der immer
ausgelacht wurde, wacht er mit der Hingabe
eines treuen Hundes an seinen Herrn über seine
äußere Wirkung. Frauen bemerken so etwas
selten. Carla zum Beispiel glaubte, daß ihm
seine Eleganz so fest angewachsen sei wie der
kleine Schnurrbart. Übrigens verbarg sie ihm
keineswegs, daß sie an ihm in erster Linie das

Dekorative bewunderte und liebte. Infolgedejjen
wuchs mit seiner Liebe auch seine krankhafte
Eitelkeit.

Wenige Wochen vor der Heirat hatte Carla
die unheilvolle Idee, nach Binz zu fahren. Hier
begann das Pech. „Glaube mir", erklärte mir
Niko, „an unserer 'Trennung iß nur Binz
schuld; d. h. diese verrückte Mode, öffentlich zu
baden, halbnackt umherzulausen, die ganze Non-
chalance und Schamlosigkeit eines Seebades.
— Der erste Krach kam, als Niko sich mit
plötzlicher Hartnäckigkeit weigerte, ins Familien-
bad zu gehen. Diese Szene wiederholte jich jeden
Tag. Wenn ein ÖNann eine Frau, die vorbild-
lich gewachsen ist und ein entsprechendes Bade-
kostüm aus Paris trägt, allein ins Familienbad
schickt, so ist das ein Grund, an seiner Liebe zu
zweifeln. NikoS Weigerung blieb ebenso hart-
näckig wie unerklärlich.

„Sie liebte in mir den immer eleganten und
gut aussehenden Mann. Ich durfte ihr diese
Illusion nicht rauben, ünd ich hielt eS für
richtiger, ihre Eifersucht zu erregen, als ibre
Belustigung." Es ist einleuchtend, daß er ihr
Register
Max Beckmann: Am Strand
Lena M. Rhan: Illusion in Binz
 
Annotationen