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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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Nr. 49 (Rauchen und rauchen lassen)
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https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0777
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Kurt Werth

wurde bei genanntem Fest der Ruf nach
Zigaretten öffentlich laut, denn der Gastgeber
hatte den Bedarf weit unterschätzt. Am
schwersten litt Lydia. Nicht daß sie, wie die
anderen, ihren Kummer damit abreagiert
hätte, Keilrahmen zu demolieren, Paletten zu
zerhämmern und Farbtuben gegen die Decke
zu schleudern, sie lag still mit der Ergebenheit
ihres Volkes in der Sofaecke und rieb nervös
ihre siennabraunen Fingerspitzen gegeneinan-
der. Konnte ein Mann von Herzensbildung
diesem wortlosen Leid widerstehen? „Lydia",
flüsterte ich ihr deshalb liebreich ins Ohr,
„ich habe noch einige hundert Zigaretten zu
Hause, eS mögen auch tausend sein oder eine
Million. Willst du zu mir kommen, Lydia?"
Sie nickte stumm, stellte sich auf ihre Kosaken-
stiefelchen und trippelte neben mir in die
regennasse Herbstnacht hinaus. —

Ein rüstiger Mann, der liebt, weiß mehr
zu versprechen, als zehn andere halten können,
und ich hätte Lydia ebensogut wie eine
Zigarette die Sensation in Aussicht stellen
können, daß ich die Diara des DisiapherneS
in meinem Nachtkästchen aufbewahrte.
Immerhin, immerhin! Gibt eS nicht historisch
beglaubigte Fälle, in denen edle Frauen, vom
seelenvollen Benehmen eines liebenden Man-
nes überwältigt, ihrer materiell gearteten
Wünsche entsagten? Sollte nicht auch dieses

glutäugige Steppenfüllen zugunsten höheren
Erlebnisses auf die Erfüllung eines kleinlichen
Begehrens gerne Verzicht leisten? Meine
diesbezügllche Hoffnung erwies sich aller-
dings als trügerisch, denn kaum hatte sich
Lydia mit ihren Kosakenstiefelchen auf meine
frisch gereinigte Ottomane gekauert, als sie
auch schon lüstern die Lippen feuchtete und
den peinlichen Wunsch nach einer Zigarette
laut werden ließ. — „Sofort, Lydia,
sofort!" — Ich durchstöberte die Fächer
meines Schreibtisches, Wäsche- und Kleider-
schrank, Blumenvasen, Kakteentöpfe und
Hausschuhe, Bettmatratze und Toiletten-
eimer. Nichts, das auch nur eine annähernde
Ähnlichkeit mit einer Zigarette aufgewiesen
hätte! Lydia war unterdessen mit dem
schmollenden Ausdruck eines nach der Mutter-
brust gierenden Säuglings entschlummert.

Gegen sechs Uhr morgens fand ich bei
Durchstöberung meines Büchergestelles eine
vor Jahren als Merkzeichen verwendete
Zigarette. Ihrem Berufe entsprechend war
sie hart und platt gedrückt, roch etwas nach
Naphthalin und hatte in der langen Zeit
ihrer Dienstleistung an ihrem frei ragenden
Ende unter den Ablagerungen von Fliegen
schwer zu leiden gehabt. Vorsichtiges Be-
hämmern und energische Behandlung mit
Spektrol schufen ihr allmählich an Form

Entwicklung

„Seht, KinnerS, r o o ch e n kann ick schon, aber
wie man det Lieben macht, w e e ß ick leider erst."

P l a u d e r e i

„Eine gute Zigarette, — dann braucht man überhaupt keinen Mann inehr."
„Ja, nur vorher!"

und Farbe wieder das erfreuliche
Aussehen ihrer Gattung. Nachdem
es sich noch als nötig erwiesen
hatte, einige durch die Restau-
rierungsarbeiten entstandene Löcher
mit Markenpapier zu verkleben,
konnte ich bereits gegen sieben Uhr
darangehen, die Zigarette in Brand
zu setzen und der schlummernden
Geliebten kosend zwischen die Lip-
pen zu schieben. Ein glückliches
Lächeln lief über Lydias Züge, und
eine mächtige Dampfwolke stieg
auf, der ein längeres Husten folgte.
„Ich danke Ihnen!" keuchte Lydia
und legte die Zigarette, von Husten-
anfällen sehr behindert, aus den
Aschenbecher, „haben Sie vielleicht
noch mehr von dieser Sorte?"
„Nein", antwortete ich bescheiden,
„eS war meine letzte, und sie sollte
dir gehören!" „Edler Mensch!"
rasselte nun überwältigt daS ge-
liebte Mädchen, „und nun sollst
auch du sie rauchen!" „Nein
du!" drängte ich liebevoll und
küßte dabei ihre blauschwarzen
Ponnyhaare. — Und so entwickelte
sich denn aus dieser edlen Selbst-
losigkeit im Morgengrauen die
Liebe, während die Zigarette ihren
Versuch, zu brennen, mit einem
letzten, höllisch stinkenden Rauch-
wölkchen beschloß.

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Dugo: Plauderei
 
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