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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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Arbeiter Karl Zerbe

der Höhe der Zeltkuppel herab, irrte eine Weile
wie suchend umher, sunkte über die gespannt
vorgeneigten Köpfe der Besucher und rastete
endlich mit grausamer Helle aus einer schwarzen
Stahlblechwand, die vor dem rückwärtigen Aus-
gang der Manege aufgerichtet war, — dem
Kugel fang.

In der Arena verneigte sich jetzt gegen das
Publikum ein schlankes, weißes Mädchen, das
die kokett zurechtgeschnittene Uniform von
Roosevelts Rough-RiderS trug. Die U.S.A.-
Matrosen johlten begeistert.

Eine Trompete schrie.

Living Target! — Er schritt mit merkwürdig
automatischen Bewegungen quer durch die
Manege und stellte sich vor dem Kugelfang auf,
ein breitschulteriger Europäer von unbestimm-
barem Alter, nackt bis auf einen Lendenschurz,
der an ein Stück mittelalterlichen Kettenpanzers
gemahnte. Die Krempe eines Stahlhelms
schützte die Augen.

So stand er da ohne Bewegung, während
das Rough-Rider-Mädchen das Phänomen in
englischer, französischer und spanischer Sprache
erklärte:

„Living Target ist unverwundbar. Seine Haut
ist fejt wie Eisen. Wer von den Zuschauern
wünscht, auf Target zu schießen, mag in die
Manege kommen. — Es ist verboten, von den
Plätzen aus zu schießen, weil damit das Publi-
kum gefährdet wird. Verboten sind auch
Mantelgeschosse, sie würden in Targets Haut
stecken bleiben. Zugelassen dagegen sind Rund-
kugeln und Schrot aller Art, auch Langblei.
Jede Art von Schußwaffe kann benutzt werden,
Büchsen, Flinten, Pistolen, Revolver. Jedes
Kaliber. — Sollten Indianer anwesend sein,
auch Pfeile, Giftpfeile sogar."

Am Schlüsse seiner Rede machte das Mäd-
chen eine einladende Geste.

— UrwaldindioS mit Pfeil und Bogen waren
wohl nicht unter den Gästen deS „La Pazzia".
Dagegen aber viele Leute, die offen oder ver-
steckt ein Schießeisen bei sich trugen. Diejenigen,
die nicht versehen waren, konnten sich unten in
der Manege eine Waffe aussuchen, sie konnten
alle Kaliber zwischen Zimmerstutzen und Ele-
fantenbüchse leihen, gegen eine feste Gebühr.

Zuerst blieb es still. Nur auf den höchsten
Sitzen schnatterten ein paar Neger los. Ein
Mulatte erhob sich, als wolle er hinunter in die
Arena gehen, schrille Warnungspfiffe schreckten
ihn zurück. Ein Schwarzer auf den weißen
Mann schießen?! — Nein!

DaS Rough-Rider-Mädchen lächelte zwei
khakibraunen Seesoldaten zu und erreichte, daß
die beiden sich in die Mitte der Manege be-
gaben, um den ersten Schuß zu tun.

Der eine wählte eine uralte Trapperflinte,
der andere einen Armeerevolver. Mit geschickten
Fingern lud das Mädchen. — Die Flinte
krachte. — Johlendes Gebrüll durchtoste den
ZirkuS, die Kugel hatte sich, einen halben Meter
von Target entfernt, auf dem Schutzschild breit-
geschlagen. Der Fehlschuß war natürlich Ab-
sicht, mußte Absicht gewesen sein, denn auf die
geringe Entfernung konnte ein Kind gute Treffer
erzielen. — Noch war nicht wieder Ruhe ein-
getreten, als der andere Matrose feuerte. Er
setzte drei Kugeln gegen den gepanzerten Lenden-

schurz des Unverwundbaren, warf den Revolver
in weitem Bogen in den Sand und stampfte
gesenkten Kopfes, gefolgt von seinem Kamera-
den, zu seinem Stuhl zurück.

Der dritte Schütze, der sich meldete — ein
vierschrötiger, roher Kerl —, war nur schwer
zu bewegen, die eigene Selbstladepistole zur
Prüfung auf Spitzmunition herzugeben. Erst
als scharfe Pfiffe aus der Gegend ertönten, in
der viele weiße Käppchen beieinander waren,
reichte der klotzige Lastträger dem Mädchen die
Schußwaffe.

Kaum hielt er sie wieder in den Fingern, da
hämmerten sechs Schüsse kurz nacheinander auS
dem Lauf. Alle sechs trafen Living Target auf
die Brust. Plattgeschlagen sielen die Blei-
geschosse zu Boden.

bind, als sei nun der hemmende Bann, der
bisher über Weißen und Farbigen gelegen hatte,
gelöst und zerflattert, füllte sich rasch der Teil
des Manegenrunds, in dem das Rough-Rider-
Mädchen Mann um Mann an den Schieß-
stand herantreten ließ.

Da waren welche, die schossen mit ungeübten
Fingern wie sinnlos nach dem reglosen Mann;
andere zielten bedächtig, ein böses Flackern unter
zusammengekniffenen Lidern, auf die Herz-
gegend; wieder andere verlangten, dicht an den
Unverwundbaren Herangehen zu dürfen, um auS
nächster Nähe, die Mündung der Büchse fast
auf der eisenharten Haut, abziehen zu dürfen.

Schuß um Schuß krachte. Living Target
rührte keinen NtuSkel.

Das Gedränge um seine junge Partnerin
wuchs. Angestellte deS „La Pazzia" sprangen
zur Unterstützung, zur Aufrechterhaltung der
Ordnung herbei. Mit Mühe wurde der Tumult
gedämpft; mit Gewalt brachte man die Schrei-
enden zur Ruhe, die nicht früh genug an den
Schießstand gelangen konnten, um — — auf
einen lebenden Menschen zu schießen.

Die Bestie war hellwach ...

-Angewidert drehte ich den Vorgängen

in der Arena den Rücken und wollte den Zirkus
verlassen. Was ich gesehen hatte, war einen
Ouarter wert.

„Nicht Ihr Geschmack, Herr?" hörte ich
hinter mir eine heisere Stimme fragen, spöt-
tisch und verächtlich. — Ich warf den Kopf
herum und schaute dem Rowdy ins Gesicht,
der die ersten Schüsse gegen die Brust Living
Targets gerichtet hatte.

Mit diesem Kerl anbinden? Nein!

Hinaus nur aus dem Zirkus „La Pazzia"!

„Wenn der Mann von Eisen nicht Ihr Ge-
schmack ist, Herr", fuhr der Ungeschlachte,
immer noch dicht hinter mir fort, „vielleicht
findet das Mädchen Ihren Beifall!"

_ Das Angebot traf mich wie ein Steinwurf
ins Gesicht. Aber ehe ich eine Erwiderung
finden konnte, raunte der Rowdy mir ins Ohr:

„Nach Programmschluß! Beim Wohn-
wagen 16!"

Dann war er im Gewühl des ZirkuS „Wahn-
sinn" verschwunden.

*
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Karl Zerbe: Arbeiter
 
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