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193 1

J U

36. JAHRGANG

D

N R. 13

VON DESIREE LIEVEN

Denise ging langsam den Duai de Pajfy ent-
lang, am Srocadero vorbei. Es war Herbst.
Sie lvar Z2 Jahre alt und der Mann, den sie
liebte, verließ morgen für immer die Stadt. Er
hatte sich geweigert, sie noch einmal zu sehen,
er weigerte sich auch, ihr seine Adresse zu hinter-
lassen. — Bor ihr ging ein Liebespaar, das jich
küßte; die hohen Stöckelschuhe des Mädchens
knickten aus dem Kies um, der Mann hatte
seinen Arm zärtlich um ihre Schulter gelegt;
er trug eine Aktentasche und einen steifen Hut.
Ein verspäteter Reiter trabte vorbei; Arbeiter
saßen, halbgefüllte Weinflaschen neben sich, aus
den Bänken. Die Blätter fielen langsam, wie
unwillig von den Bäumen, inanchmal lies eines
im Winde wie eine Ratte.

Denise hatte Kopfweh, ihre Augen schmerzten

vom vielen Weinen und sie blinzelte, wenn sie
ins Licht sah. Ein betäubend strenger Duft nach
feuchter Erde und modernden Blättern stieg auf,
sie schloß einen Augenblick die Augen und atmete
tief. Jetzt war sie ein wenig müde vom Gehen,
ein Stein in ihrem Schuh drückte, aber sie lvar
zu deprimiert, um ihn herauszuschütteln. „Das
gibt ein Loch im Strumpf", dachte sie beküm-
mert, „die neuen Strümpfe für 25 Francs".
Wie leer es hier an Wochentagen lvar; es fiel
ihr plötzlich ein, daß sie ohne Erlaub vom Ge-
schäft sortgeblieben war. Was würde Gabrielle
sagen — seit sie Premiere war, hatte sie iminer-
sort etlvaS an ihr auszusetzen! End die baronne
Morlay, die heute zur Anprobe kam für den
Abendmantel . . . „Sicher hat Kitty den Ärmel
wieder falsch eingesetzt", dachte Denise, aber ihre

Gedanken wanderten: „Jacques... nur die
Adresse.. . ob er auch daran gedacht hat, den
Mantel auS der Reinigung zu holen? ..

Einen Augenblick blieb sie an der niedrigen
Duaimauer stehen und blickte ins Wasser. Die
Seine floß grau und träge: einige Arbeiter
schaufelten an einem hohen Sandhaufen. Ein
kleiner Dampfer keuchte langsam gegen den
Strom, zlvei mit Holz beladene Barken nach
sich ziehend. Denise folgte ihnen gedankenvoll
init den Augen; auf der zweiten stand ein Mann
in Hemdsärmeln gegen das Steuer gestemmt.
Wäsche flatterte im Winde, neben der Kabinen-
tür saß eine Frau über einen Eimer gebeugt,
sie schälte Kartoffeln für das Nachtmahl. Ein
kleiner Hund lief bellend auf dem Bootsrand
auf und ab. „Wenn ich nur dort fein könnte",
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