J U G E
3 6. JAHRGANG
N D
19 3 1 / NR. 20
SELBSTMÖRDER UNTER SICH
VON KURT RUDOLF NEUBERT
Es mau Mitternacht. Über dein Selbst-
mörderfriedhof stand der Ntond. Die Kreuze
funkelten.
Da stieg ein Mann ans seinem Grabe. Er
hatte ein Loch in der Stirn. In dem schwarzen
Gehrock, in dem man ihn in den Sarg gelegt
hatte, kam er leicht taumelnd den schmalen
Gang durch die Gräberreihen auf den Haupt-
weg hinaus und schritt auf eine Bank zu, die
in der Nähe der Leichenhalle unter einem Hol-
lunderbusch stand. Der Mann mit dem Loch
in der Stirn nahm Platz, nicht ohne vorher
— gewiß aus aitcv Gewohnheit — sich von
der Sauberkeit der Bank über-
zeugt zu haben. Der Mann saß
ruhig da, er versuchte, das linke
Bein über das rechte zu schlagen,
aber aus irgendeinem Grund ging
das nicht, seine Haltung blieb
etwas steif, und er schüttelte mehr-
mals den Kopf, wobei aus dem
kleinen Loch in der Stirn Bluts-
tropfen sickerten. Der Mann
schien auf jemand zu warten.
Es dauerte auch nicht lange,
dann tauchten aus dem Dunkel
des Selbstmörderfriedhofes andere
stille, schwankende Gestalten auf,
näherten sich gemessenen
Schrittes der Bank, wo der
Mann mit dem Loch in der Stirn
saß. Es waren Selbstmörder, die
inan erst in der vorigen Woche
hier beigesetzt hatte.
Der Mann mit dem Loch in
der Stirn begrüßte feierlich die
Neuangekommenen: einen Mann,
der mit langem Hals alle anderen
überragte, einen anderen, der er-
kältet zu sein schien, und ein junges
blasses Mädchen in einem langen,
weißen Brautnachthemd.
Der Mond, der sich für einige
Zeit hinter einer Wolke verzogen
hatte, brach wieder voll und rund
hervor und beleuchtete die merk-
würdigen Gestalten auf der Bank.
Sie musterten sich gegenseitig mit
etwas scheuen, schrägen Blicken,
wie Leute, die sich auf einer Ge-
sellschaft treffen und noch nicht
vorgestellt sind. Der Mann mit
dein langen Hals sah den Er-
kälteten prüfend von der Seite an,
der Mann mit dem Loch in der Stirn ließ Dieses Wort erregte in der kleinen Versamm-
seinen Blick auf dem blassen Gesicht des lung sehr verschiedene Empfindungen. Der
Mädchens ruhen und die Hemdbekleidete sah, Mann mit dem langen Hals nickte heftig zu-
während eine beinahe gesunde Röte in ihre stimmend mit dem Kopf, der Erkältete hustete
blassen, kalten Wangen stieg, verlegen in ihren aus Verlegenheit, und das Mädchen schien
Schoß. weinen zu wollen.
„Da sitzen wir nun", bemerkte der Mann „Selbstmörder!" setzte der Mann mit dem
mit dem Loch in der Stirn nach einer Weile, Loch in der Stirn seine Meditation in einer
„für die Welt sind wir tot, unsere Flamen sind gewissen Wollust fort, „im Leben auSgestoßen,
aus den Listen gestrichen, und gäbe es einen stumm beiseite gebracht, sang- und klanglos
neuen Weltkrieg, wir bekämen weder StellungS- begraben..."
befehle noch Lebensmittelkarten. Wir sind nicht „Wie sind Sie denn hierher gekommen?"
nur tot, wir sind sogar Selbstmörder!" wandte er sich dann unvermittelt an den
Mann mit dem langen Hals.
,,^ch?" zuckte der Angeredete
mit den Schultern, dann mit den
Lippen, „wie sind Sie denn hier-
her gekommen, Herr Nachbar?"
Der Mann mit dem Loch in
der Stirn lachte. Er war der
einzige, der lachen konnte. Alle
sahen ihn an, die Männer ver-
wundert, erstaunt, neugierig, das
Mädchen verstört und halb wider-
willig.
„Haben Sie es noch nicht be-
merkt?" fing der Mann an. Alle
sahen jetzt auf das Loch in der
Stirn des Mannes. Ein Bluts-
tropfen sickerte wieder langsam
hervor und gerann.
„Sie haben es doch leicht ge-
habt", meinte der Erkältete, „ein
Knall und aus war die Misere,
aber ich ..."
„Sie?" fragten alle im Kreise,
und sie suchten an seiner Gestalt
die Merkmale seiner TodeSart zu
finden.
„Gift?" fragte der Mann mit
dein langen Hals.
„Nee", hustete der andere, sein
Husten klang über die Gräber, eS
klang wie das Rauschen in den
Büschen.
„Sie haben Ihrem Dasein
durch einen Sprung ins Wäger
ein Ende gemacht!" schloß der
intelligente Mann mit dem Loch
in der Stirn ans diesem Husten.
Das Mädchen zitterte zusammen.
Der Angeklagte nickte nur stumm
mit dem Kopf.
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SELBSTMÖRDER UNTER SICH
VON KURT RUDOLF NEUBERT
Es mau Mitternacht. Über dein Selbst-
mörderfriedhof stand der Ntond. Die Kreuze
funkelten.
Da stieg ein Mann ans seinem Grabe. Er
hatte ein Loch in der Stirn. In dem schwarzen
Gehrock, in dem man ihn in den Sarg gelegt
hatte, kam er leicht taumelnd den schmalen
Gang durch die Gräberreihen auf den Haupt-
weg hinaus und schritt auf eine Bank zu, die
in der Nähe der Leichenhalle unter einem Hol-
lunderbusch stand. Der Mann mit dem Loch
in der Stirn nahm Platz, nicht ohne vorher
— gewiß aus aitcv Gewohnheit — sich von
der Sauberkeit der Bank über-
zeugt zu haben. Der Mann saß
ruhig da, er versuchte, das linke
Bein über das rechte zu schlagen,
aber aus irgendeinem Grund ging
das nicht, seine Haltung blieb
etwas steif, und er schüttelte mehr-
mals den Kopf, wobei aus dem
kleinen Loch in der Stirn Bluts-
tropfen sickerten. Der Mann
schien auf jemand zu warten.
Es dauerte auch nicht lange,
dann tauchten aus dem Dunkel
des Selbstmörderfriedhofes andere
stille, schwankende Gestalten auf,
näherten sich gemessenen
Schrittes der Bank, wo der
Mann mit dem Loch in der Stirn
saß. Es waren Selbstmörder, die
inan erst in der vorigen Woche
hier beigesetzt hatte.
Der Mann mit dem Loch in
der Stirn begrüßte feierlich die
Neuangekommenen: einen Mann,
der mit langem Hals alle anderen
überragte, einen anderen, der er-
kältet zu sein schien, und ein junges
blasses Mädchen in einem langen,
weißen Brautnachthemd.
Der Mond, der sich für einige
Zeit hinter einer Wolke verzogen
hatte, brach wieder voll und rund
hervor und beleuchtete die merk-
würdigen Gestalten auf der Bank.
Sie musterten sich gegenseitig mit
etwas scheuen, schrägen Blicken,
wie Leute, die sich auf einer Ge-
sellschaft treffen und noch nicht
vorgestellt sind. Der Mann mit
dein langen Hals sah den Er-
kälteten prüfend von der Seite an,
der Mann mit dem Loch in der Stirn ließ Dieses Wort erregte in der kleinen Versamm-
seinen Blick auf dem blassen Gesicht des lung sehr verschiedene Empfindungen. Der
Mädchens ruhen und die Hemdbekleidete sah, Mann mit dem langen Hals nickte heftig zu-
während eine beinahe gesunde Röte in ihre stimmend mit dem Kopf, der Erkältete hustete
blassen, kalten Wangen stieg, verlegen in ihren aus Verlegenheit, und das Mädchen schien
Schoß. weinen zu wollen.
„Da sitzen wir nun", bemerkte der Mann „Selbstmörder!" setzte der Mann mit dem
mit dem Loch in der Stirn nach einer Weile, Loch in der Stirn seine Meditation in einer
„für die Welt sind wir tot, unsere Flamen sind gewissen Wollust fort, „im Leben auSgestoßen,
aus den Listen gestrichen, und gäbe es einen stumm beiseite gebracht, sang- und klanglos
neuen Weltkrieg, wir bekämen weder StellungS- begraben..."
befehle noch Lebensmittelkarten. Wir sind nicht „Wie sind Sie denn hierher gekommen?"
nur tot, wir sind sogar Selbstmörder!" wandte er sich dann unvermittelt an den
Mann mit dem langen Hals.
,,^ch?" zuckte der Angeredete
mit den Schultern, dann mit den
Lippen, „wie sind Sie denn hier-
her gekommen, Herr Nachbar?"
Der Mann mit dem Loch in
der Stirn lachte. Er war der
einzige, der lachen konnte. Alle
sahen ihn an, die Männer ver-
wundert, erstaunt, neugierig, das
Mädchen verstört und halb wider-
willig.
„Haben Sie es noch nicht be-
merkt?" fing der Mann an. Alle
sahen jetzt auf das Loch in der
Stirn des Mannes. Ein Bluts-
tropfen sickerte wieder langsam
hervor und gerann.
„Sie haben es doch leicht ge-
habt", meinte der Erkältete, „ein
Knall und aus war die Misere,
aber ich ..."
„Sie?" fragten alle im Kreise,
und sie suchten an seiner Gestalt
die Merkmale seiner TodeSart zu
finden.
„Gift?" fragte der Mann mit
dein langen Hals.
„Nee", hustete der andere, sein
Husten klang über die Gräber, eS
klang wie das Rauschen in den
Büschen.
„Sie haben Ihrem Dasein
durch einen Sprung ins Wäger
ein Ende gemacht!" schloß der
intelligente Mann mit dem Loch
in der Stirn ans diesem Husten.
Das Mädchen zitterte zusammen.
Der Angeklagte nickte nur stumm
mit dem Kopf.
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