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Sehen Sie den schweren, älteren Herrn dort?
Es fällt Ihnen auf, daß er in einem etwas
schleppenden Gang geht — so, als kämpfe er
sich durch unsichtbare Widerwärtigkeiten hin-
durch. Jetzt kommt er näher, beachten Sie den
oerbissen-leidenden Ausdruck seines Gesichtes, er
preßt die Lippen schmal, man ist überzeugt,
daß er hinter den Lippen die Zähne zusammen-
beißt.

Sie wundern sich, daß ich ihn gegrüßt habe?
Ja, ich kenne ihn flüchtig, ich habe ihn einmal
kennengelernt auf einer Gartenbank. Er saß
mit derselben Miene dort — immer mit dieser
Miene, als müsse er etwas in sich zurückhalten,
was heraus will. Er ist ein zur Ruhe gesetzter

Dersicherungsbeamter, er hat eine kleine Pen-
sion, er ist nicht viel über 60 Jahre alt und ist
Witwer seit etwa einem Jahr.

DaS Schleppende, die unsichtbaren Gewichte
an seinen Beinen und das Gebremste, das Zu-
genagelte seines Mundes hängt mit dem Schick-
sal zusammen, das ihn zum Witwer gemacht
hat. Es hängt auch damit zusammen, daß er
vor einigen Monaten wegen Gotteslästerung
verurteilt worden ist und daß man ihm Be-
währungsfrist gegeben hat.

Bewährungsfrist ist eine gut gemeinte,
menschenfreundliche Einrichtung, die aber offen-
bar nicht verhindern kann, daß sie einen Men-
schen verstockt macht, Schloß und Riegel vor

einen Menschen legt, weil er sonst in Gefahr ist,
Dinge zu sagen, die ihm die heilsamen Aus-
wirkungen einer gut überstandenen Frist zer-
stören.

Die sogenannte Gotteslästerung, die er be-
gangen haben soll, hat sich in der Weise zu-
getragen, daß er bald nach dem Tod seiner
Frau in einer Weinwirtschaft mit einem Geist-
lichen ins Gespräch kam. Dem geistlichen Herrn
war, wie er später aussagte, das hilflose, ver-
zweifelte blmherschauen des Mannes, das von
einem steinernen Brüten auf Augenblicke ab-
gelöst wurde, aufgefallen. Er habe den am
selben Tische Sitzenden, der seinen Wein un-
berührt ließ, angesprochen und ihn gefragt, ob

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Wilhelm Thöny: Quai d'Orsay
Alexander Moritz Frey: Der Gotteslästerer
 
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