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3 6. JAHRGANG
G
E
N
D
19 3 1 / NR. 44
690
M
oa
cL
age vor dem ^Jejonönis
VON FEDOR WÄLDERLIN
Ich bin eine Gaslaterne und vermute, -daß
meine Tage gezählt sind. Ich schäme mich
dessen nicht, denn wenn man so müde und alt
ist wie ich, liegt einem nichts mehr daran,
was die Leute über einen sagen und denken,
und es ist einem grenzenlos gleichgültig, ob
>ie lachen oder spotten. Ich bin so müde, daß
es mir recht wäre, wenn auch an meiner
Stelle eine jener großen Lampen hinge, die
das Licht mit blauer Kälte um sich breiten.
Mein Licht ist grün und empfindlich; es gerät
gleich in zitternde Schwingungen, wenn sich in
seinem Kreise etwas ereignet. blnd die
Schwingungen meines Lichts kommen wie
heftige Herzstoße zu mir zurück und erschüttern
mich.
Es hat sich wohl vieles in meinem Licht-
kreis ereignet, es war alles so hart, «daß es
an mir gerüttelt hat, «und daß ich in wind-
stillen Nächten sogar mit den Scheiben ge-
klirrt habe.
Och weiß nicht recht, wie mir geschieht: ich
glaube, ich bin enttäuscht, ernüchtert, ich fühle
mich irgendwie mißverstanden oder zurück-
gestoßen, nicht beachtet. Wie genau weiß -ich
doch, daß mein grünes Licht warm ist, so
warm, daß es den Schnee tauen kann — es
ist 'im Winter immer ein schwarzer Hof im
Schnee, in dessen Mitte ich ans dem Boden
stehe —, aber es war me so warm, wie ich
es haben wollte, so warm, daß es auch Men-
schen erwärmte, die in meinen Kreis traten.
Sicher habe ich einen unglücklichen Stand-
punkt, denn es glückt mir nichts. Ich habe
nie einen Menschen lachen sehen, und wenn
einmal ein Lachen zu mir -drang, kam es wie
der Klang einer zerschlagenen Fensterscheibe
oder wie der Aufschrei gewaltsam zerrissener
Saiten. Ost mußte ich -mich über die Kinder
wandern, die sich scheu an mir vorbeidrückten,
am liebsten an der gegenüberliegenden Hänser-
wand, als wäre ich eine böse Gewalt, oder
als wäre in meinem Licht nicht alles geheuer.
Ich verstand nichts von dem, was uin mich
vorging, und doch nahm ich mit meinem sen-
siblen Licht soviel Anteil daran, daß es mich
init der Zeit zermürbt hat, und Ich glaube
wahrhaftig, meine Mürbheit -ist daran schuld,
daß ich kein Gedächtnis mehr habe.
Da stehe ich vor einer hohen, kalten, glatten
Mauer, sehe nichts als das eiserne Tor, daS
in einer tiefen Nische in sie eingelassen ist,
und zwei schmutzige Häuser mit vielen Fen-
stern gegenüber, und denke immer, inan könnte
Studie
S e 11 i g n a n o
Ernst Schütte
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age vor dem ^Jejonönis
VON FEDOR WÄLDERLIN
Ich bin eine Gaslaterne und vermute, -daß
meine Tage gezählt sind. Ich schäme mich
dessen nicht, denn wenn man so müde und alt
ist wie ich, liegt einem nichts mehr daran,
was die Leute über einen sagen und denken,
und es ist einem grenzenlos gleichgültig, ob
>ie lachen oder spotten. Ich bin so müde, daß
es mir recht wäre, wenn auch an meiner
Stelle eine jener großen Lampen hinge, die
das Licht mit blauer Kälte um sich breiten.
Mein Licht ist grün und empfindlich; es gerät
gleich in zitternde Schwingungen, wenn sich in
seinem Kreise etwas ereignet. blnd die
Schwingungen meines Lichts kommen wie
heftige Herzstoße zu mir zurück und erschüttern
mich.
Es hat sich wohl vieles in meinem Licht-
kreis ereignet, es war alles so hart, «daß es
an mir gerüttelt hat, «und daß ich in wind-
stillen Nächten sogar mit den Scheiben ge-
klirrt habe.
Och weiß nicht recht, wie mir geschieht: ich
glaube, ich bin enttäuscht, ernüchtert, ich fühle
mich irgendwie mißverstanden oder zurück-
gestoßen, nicht beachtet. Wie genau weiß -ich
doch, daß mein grünes Licht warm ist, so
warm, daß es den Schnee tauen kann — es
ist 'im Winter immer ein schwarzer Hof im
Schnee, in dessen Mitte ich ans dem Boden
stehe —, aber es war me so warm, wie ich
es haben wollte, so warm, daß es auch Men-
schen erwärmte, die in meinen Kreis traten.
Sicher habe ich einen unglücklichen Stand-
punkt, denn es glückt mir nichts. Ich habe
nie einen Menschen lachen sehen, und wenn
einmal ein Lachen zu mir -drang, kam es wie
der Klang einer zerschlagenen Fensterscheibe
oder wie der Aufschrei gewaltsam zerrissener
Saiten. Ost mußte ich -mich über die Kinder
wandern, die sich scheu an mir vorbeidrückten,
am liebsten an der gegenüberliegenden Hänser-
wand, als wäre ich eine böse Gewalt, oder
als wäre in meinem Licht nicht alles geheuer.
Ich verstand nichts von dem, was uin mich
vorging, und doch nahm ich mit meinem sen-
siblen Licht soviel Anteil daran, daß es mich
init der Zeit zermürbt hat, und Ich glaube
wahrhaftig, meine Mürbheit -ist daran schuld,
daß ich kein Gedächtnis mehr habe.
Da stehe ich vor einer hohen, kalten, glatten
Mauer, sehe nichts als das eiserne Tor, daS
in einer tiefen Nische in sie eingelassen ist,
und zwei schmutzige Häuser mit vielen Fen-
stern gegenüber, und denke immer, inan könnte
Studie
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