Novemberstimmung
„Ach bitte, spielen Sie doch einmal etwas ganz
Trauriges: ich möchte dabei gerne an die zweite
Pleite von meinem dritten Mann denken!"
ginge auf keinen Fall so weiter — es Ware durchaus das, was man
unhaltbare Zustande nennen müsse. blnd dabei fuchtelte sie erregt mir
ihren Armen und blitzte ihren Gemahl und ihre Tochter voll Zornes an.
Da geschah etwas Entsetzliches. Der junge Arzt, enerviert durch die
beständigen Deklamationen seiner Gattin, verlor alle Contenance und
nannte sie „eine hysterische alte Ziege".
Frau Elisabeth war sprachlos. Mit halb geöffnetem Mund und
tellergroßen Augen starrte sie ibren Gatten an. Dann bekam ihr Gesicht
eine unvermutete Harte und Entschlußfreudigkeit. „Genug", schrie sie,
„daS lasse ich mir keinen Tag langer bieten", blnd erzürnt rauschte sie
hinaus, die beiden Kinder verlegen und ratlos zurücklasfend.
„MaS nun?" fragte der junge Arzt verwirrt und sah ängstlich Eva
an. Aber Eva schmiegte sich zärtlich und liebevoll an ihn und streichelte
mti* schweigend seine Hände.
Der Herr Professor war nicht wenig überrascht, den Besuch seiner
Geschiedenen zu erhalten. Er empfing sie im Bibliothekszimmer. Ge-
rührt nahm Elisabeth den Duft der alten Wohnung auf. — „Wirst
du auch gut bedient von Frau Berber?" fragte sie ihn behutsam und
mitleidig.
„Frau Berber?" erstaunte sich Alexander. „Weißt du denn nicht. ..
hat dir denn Eva nicht erzählt, daß ich eine scharmante, junge Wirt-
schafterin inS HauS genommen habe, eine noch jüngere Dame, die ich
drauf und dran bin zu heiraten?"
Frau Elisabeth erschrak heut zum zweiten Male. „Ich bin vom
Schicksal verfolgt", dachte sie. Dann begann sie ganz plötzlich leise zu
weinen. „Alexander, Alexander", flüsterte sie, „er hat mich eine hyste-
rische alte Ziege genannt, bind das Schlimmste daran ist, in Gegen-
wart EvaS."
Der Professor war ganz konsterniert, er wußte gar nicht, waS er
dazu sagen sollte. Er hätte so gern seine Geschiedene danach gefragt,
welche Zensur Eva unter ihrem letzten Mathematik-Extemporale be-
kommen hatte. Aber daS zu fragen, fürchtete er, würde jetzt vielleicht
taktlos gewesen sein. Also beherrschte er seine pädagogische Neigung.
„Arme Elisabeth", sagte er nur und küßte Jie vorsichtig auf die Wange.
Elisabeth warf wie galvanisiert durch die Berührung ihre beiden
Arme um seinen Hals. „Alexander", flüsterte sie ihm scharf inS Ohr,
„Alexander, ich lasse mich scheiden — ich will zurück."
„Schön", sagte Alexander nach einer langen Weile Schweigens. Er
lächelte gütig und zerstreut. Elisabeth ging an die Bücherreihen heran.
Zärtlich strich sie mit der Hand über die Nücken der Bände.
Alexander war verlegen um ein Taschentuch. „Warte, ich hole eS
dir", rief Elisabeth. Zurückkehrend mit dem Tuch verkündete sie: „Die
Haushälterin könntest du dann ja kündigen."
„Das ist nicht nötig", bemerkte Alexander. Er lächelte verschmitzt.
„Ich habe ja gar keine Haushälterin, und daß ich Frau Berber heiraten
will, glaubst du wohl selbst nicht." blnd mit einer kleinen Schaden-
freude fügte er hinzu: „Von Tutti bist du nun also kuriert?"
Elisabeth nickte. „Ja", hauchte sie, „ganz kuriert."
Als Elisabeth in Tuttis Wohnung zurückkehrte, fand sie ihn mit Eva
zusammen Schularbeiten machen. „Ich gehe zurück zu Alexander", sagte
sie noch in der Tür und erwartete, daß ihre Mitteilung wie eine Bombe
einschlagen würde.
Nichts dergleichen. Die beiden hoben ruhig den Kopf.
„Das trifft sich gut", bemerkte Eva vorlaut. „Tutti will sich sowieso
von dir scheiden lassen. Er liebt mich und er will mich heiraten."
Elisabeth erstarrte. Dann wollte sie anführen, daß doch der Alters-
unterschied zwischen ihnen zu beträchtlich sei, sie sollten ja nicht zu vor-
eilig sein. Aber Tutti fiel ihr ins Wort. „Ein Mann", sagte er, „kann
ruhig ein paar Jahre älter sein. DaS ist nämlich ganz waS anderes."
„Ganz was anderes", echote Eva, die an ihrem Federhalter kaute. —
„Aber jetzt", wandte sie sich an ihren Zukünftigen, „laß dich nicht ab-
lenken! Die dritte Aufgabe ist die schwerste!"
llnd sie beugten ihre Köpfe über die euklidische Geometrie.
ty^adclievi, (^Jyifeur und o^teLhoi
er
Von G. Günther
DaS Mädchen, eine richtige kleine Frau, ging zum Friseur. Sie ging
um zehn blhr morgens dorthin und dachte in einer Stunde fertig zu fein.
Aber sie mußte eine halbe Stunde warten, ehe der „Meister" Zeit für sie
fand. Als der „Meister" ihre Haare begutachtet hatte, verging eine
weitere halbe Stunde, ehe ein Lehrmädchen frei war, um die Haare zu
waschen. Es war eine kleine Stunde später, als der „Meister" die Haare
für die Wasferwelle legte. Sie verbrannte sich unter der Metallhaube
und wartete wieder, bis das Lehrmädchen sie von der „Haube" befreite,
bis der Meister den letzten Ondulationsschliff an ihr Haar legte. Da-
heim faß die Familie lange, lange schon wartend um den Tisch, ehe jie
nach Hause kam. Papa nur hatte bereits gegessen. Mama und die
kleinen Geschwister warteten. Eie wußten, daß Eva, daS Mädchen, beim
Friseur war. Sie wußten, waS das bedeutete. Nicht immer lvar Eva so
geduldig. Oft war sie lalinisch und leicht gereizt. Aber immer wenn sie
sich im Spiegel betrachtete, siegte das Gefallen an ihrem stets schöner
werdenden Haar über den Arger des Wartens. Eitelkeit ist stärker als
Laune. (Fortsetzung Seite 759)
Skalpierung
E. H. H olthoff
758
„Ach bitte, spielen Sie doch einmal etwas ganz
Trauriges: ich möchte dabei gerne an die zweite
Pleite von meinem dritten Mann denken!"
ginge auf keinen Fall so weiter — es Ware durchaus das, was man
unhaltbare Zustande nennen müsse. blnd dabei fuchtelte sie erregt mir
ihren Armen und blitzte ihren Gemahl und ihre Tochter voll Zornes an.
Da geschah etwas Entsetzliches. Der junge Arzt, enerviert durch die
beständigen Deklamationen seiner Gattin, verlor alle Contenance und
nannte sie „eine hysterische alte Ziege".
Frau Elisabeth war sprachlos. Mit halb geöffnetem Mund und
tellergroßen Augen starrte sie ibren Gatten an. Dann bekam ihr Gesicht
eine unvermutete Harte und Entschlußfreudigkeit. „Genug", schrie sie,
„daS lasse ich mir keinen Tag langer bieten", blnd erzürnt rauschte sie
hinaus, die beiden Kinder verlegen und ratlos zurücklasfend.
„MaS nun?" fragte der junge Arzt verwirrt und sah ängstlich Eva
an. Aber Eva schmiegte sich zärtlich und liebevoll an ihn und streichelte
mti* schweigend seine Hände.
Der Herr Professor war nicht wenig überrascht, den Besuch seiner
Geschiedenen zu erhalten. Er empfing sie im Bibliothekszimmer. Ge-
rührt nahm Elisabeth den Duft der alten Wohnung auf. — „Wirst
du auch gut bedient von Frau Berber?" fragte sie ihn behutsam und
mitleidig.
„Frau Berber?" erstaunte sich Alexander. „Weißt du denn nicht. ..
hat dir denn Eva nicht erzählt, daß ich eine scharmante, junge Wirt-
schafterin inS HauS genommen habe, eine noch jüngere Dame, die ich
drauf und dran bin zu heiraten?"
Frau Elisabeth erschrak heut zum zweiten Male. „Ich bin vom
Schicksal verfolgt", dachte sie. Dann begann sie ganz plötzlich leise zu
weinen. „Alexander, Alexander", flüsterte sie, „er hat mich eine hyste-
rische alte Ziege genannt, bind das Schlimmste daran ist, in Gegen-
wart EvaS."
Der Professor war ganz konsterniert, er wußte gar nicht, waS er
dazu sagen sollte. Er hätte so gern seine Geschiedene danach gefragt,
welche Zensur Eva unter ihrem letzten Mathematik-Extemporale be-
kommen hatte. Aber daS zu fragen, fürchtete er, würde jetzt vielleicht
taktlos gewesen sein. Also beherrschte er seine pädagogische Neigung.
„Arme Elisabeth", sagte er nur und küßte Jie vorsichtig auf die Wange.
Elisabeth warf wie galvanisiert durch die Berührung ihre beiden
Arme um seinen Hals. „Alexander", flüsterte sie ihm scharf inS Ohr,
„Alexander, ich lasse mich scheiden — ich will zurück."
„Schön", sagte Alexander nach einer langen Weile Schweigens. Er
lächelte gütig und zerstreut. Elisabeth ging an die Bücherreihen heran.
Zärtlich strich sie mit der Hand über die Nücken der Bände.
Alexander war verlegen um ein Taschentuch. „Warte, ich hole eS
dir", rief Elisabeth. Zurückkehrend mit dem Tuch verkündete sie: „Die
Haushälterin könntest du dann ja kündigen."
„Das ist nicht nötig", bemerkte Alexander. Er lächelte verschmitzt.
„Ich habe ja gar keine Haushälterin, und daß ich Frau Berber heiraten
will, glaubst du wohl selbst nicht." blnd mit einer kleinen Schaden-
freude fügte er hinzu: „Von Tutti bist du nun also kuriert?"
Elisabeth nickte. „Ja", hauchte sie, „ganz kuriert."
Als Elisabeth in Tuttis Wohnung zurückkehrte, fand sie ihn mit Eva
zusammen Schularbeiten machen. „Ich gehe zurück zu Alexander", sagte
sie noch in der Tür und erwartete, daß ihre Mitteilung wie eine Bombe
einschlagen würde.
Nichts dergleichen. Die beiden hoben ruhig den Kopf.
„Das trifft sich gut", bemerkte Eva vorlaut. „Tutti will sich sowieso
von dir scheiden lassen. Er liebt mich und er will mich heiraten."
Elisabeth erstarrte. Dann wollte sie anführen, daß doch der Alters-
unterschied zwischen ihnen zu beträchtlich sei, sie sollten ja nicht zu vor-
eilig sein. Aber Tutti fiel ihr ins Wort. „Ein Mann", sagte er, „kann
ruhig ein paar Jahre älter sein. DaS ist nämlich ganz waS anderes."
„Ganz was anderes", echote Eva, die an ihrem Federhalter kaute. —
„Aber jetzt", wandte sie sich an ihren Zukünftigen, „laß dich nicht ab-
lenken! Die dritte Aufgabe ist die schwerste!"
llnd sie beugten ihre Köpfe über die euklidische Geometrie.
ty^adclievi, (^Jyifeur und o^teLhoi
er
Von G. Günther
DaS Mädchen, eine richtige kleine Frau, ging zum Friseur. Sie ging
um zehn blhr morgens dorthin und dachte in einer Stunde fertig zu fein.
Aber sie mußte eine halbe Stunde warten, ehe der „Meister" Zeit für sie
fand. Als der „Meister" ihre Haare begutachtet hatte, verging eine
weitere halbe Stunde, ehe ein Lehrmädchen frei war, um die Haare zu
waschen. Es war eine kleine Stunde später, als der „Meister" die Haare
für die Wasferwelle legte. Sie verbrannte sich unter der Metallhaube
und wartete wieder, bis das Lehrmädchen sie von der „Haube" befreite,
bis der Meister den letzten Ondulationsschliff an ihr Haar legte. Da-
heim faß die Familie lange, lange schon wartend um den Tisch, ehe jie
nach Hause kam. Papa nur hatte bereits gegessen. Mama und die
kleinen Geschwister warteten. Eie wußten, daß Eva, daS Mädchen, beim
Friseur war. Sie wußten, waS das bedeutete. Nicht immer lvar Eva so
geduldig. Oft war sie lalinisch und leicht gereizt. Aber immer wenn sie
sich im Spiegel betrachtete, siegte das Gefallen an ihrem stets schöner
werdenden Haar über den Arger des Wartens. Eitelkeit ist stärker als
Laune. (Fortsetzung Seite 759)
Skalpierung
E. H. H olthoff
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