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J U G

36. JAHRGANG

END

1931 / NR. 4Y

Tristissima noctis imago...

(Ovid)

Es ist Spätherbst, vielleicht schon Winters-
anfang. Die Stadt mit ihren licht- und schatten-
los grauen Straßenkulissen, ihren kahlen Alleen,
durch die einsam der Wind fegt, und den auS-
gestorbenen Parks, in denen einige schlecht-
gekleidete junge Leute herumlungern und trüb-
sinnige Monologe halten, macht den Eindruck
von etwas äußerst Verwildertem, unrettbar
Verlorenem. Es sind die Sage, in denen man
sich zu keinem Weg entscheiden kann, weil einem
jeder Weg als der salsche erscheint, und wo man
zu glauben beginnt, daß es den rechten Weg
überhaupt nicht gibt; die Sage, in denen man
Streitigkeiten sucht, Unstimmigkeiten aufzu-
decken geneigt ist, den ganzen faulen Zauber
seiner schundigen Existenz zu durchschauen
wähnt. Fröstelnd sitzt man im nüchternen Cafe,
blättert in den Zeitungen (stets in den gleichen),
trinkt widerwillig, ohne Sinn, verzweifelt den
kaltgewordenen See, den man übermäßig ge-
zuckert hat, um ihn ungenießbar finden zu
können. Alles erscheint an solchen Sagen bleiern
oxydiert. Selbst Charlot, der sonst so munter
ist, so unbeschwert, spürt das Gewicht der Welt.
Er hat schon dreimal die Zeitung gelesen, ist
schon dreimal schmerzlich bleich bei den Annon-
cen gelandet; hat längst seinen schäbigen See
bezahlt, den er weder mit Zitrone noch mit Rum
nimmt, weil er so am billigsten ist. Aber er
kann sich nicht entschließen, das Kaffeehaus zu
verlassen.

Wenn er eS dennoch tut und in den Nebel
und die beginnende Dämmerung hinaustritt, so
tut erS nicht, um einen Vorsatz auszuführen,
sondern um sich treiben zu lassen. Er hat allen
Grund dazu. Denn selber etwas zu treiben, hat
er den Mut verloren, nachdem alles, was er
getrieben hat, fehlgegangen ist. Er nahm ver-
schiedene Stellungen an lind versuchte sich in
Berufen. Er versuchte sich in der Liebe. Aber
immer versuchte er damit die andern. Die
Stellungen wurden ihm aufgekündigt. Die Liebe
— ach, reden wir nicht davon!

Rauchte er, er würde sich jetzt eine Zigarette
anstecken. Aber er ist kein Raucher. Nicht auS
Grundsatz, nur auS Passivität. Co begnügt er

VON 0 551?

izcilsna

K A L E N T E R

sich damit, am Revers seines hochgeschlagenen
Mantelkragens zu lutschen. Sehr gut macht
sich das. bind kostet ungleich weniger als navy
cuts und three castles.

Wenn es uns Spaß macht, können wir
Charlot in ein mäßiges Lokal begleiten, wo er
zu Abend ißt. Das heißt: er ißt eigentlich nicht.
Er stochert nur traurig im Essen herum und
schiebt eS schließlich angewidert zur Seite. Auch
das Bier zu trinken wird ihm schwer. Er liest
seine Zeitung zum vierten Male. Er ist noch
nie ein so dankbarer Leser gewesen. Er zahlt
und geht.

Ihm jetzt durch alle die langweiligen Straßen
zu folgen, die er planlos durchschlendert, hieße,
sich allzusehr zum Gefährten seines Trübsinns
machen. Er gewinnt unser Interesse erst wieder,
wenn er, wie aus einen plötzlichen Entschluß hin,
unvermittelt seine Schritte beschleunigt und,
nachdem er ein Gewirr von Vorstadtstraßen

durcheilt ist, schnurstracks auf ein kleines Haus
zuläuft, das ein wenig abseits liegt: das Haus
Dianens.

Warum er an der Gartenpforte zögert?
Warum er so lange den Mond betrachtet, der
den Nebel zerstreut, dann die schwarzen SaxuS-
hecken und das tote Gestrüpp des ZaSminS und
ganz zuletzt auch das Haus...? Warum er
nicht sogleich aufschließt? Ich glaube, man kann
sein Zögern verstehn, wenn man erfährt, daß
Diane nun doch noch den schöntuerischen
Scaramuzzia heiratet und daß die Nacht, in der
Charlot so nervös ist, ihre HochzeitSnacht ist,
die sie im Hause ScapinelliS verbringt, indes ihr
eigenes Haus verwaist steht.

Wenn Charlot die Gartenpforte öffnet,
knarrt sie sentimental. Wenn er den kleinen
Weg bis zur HauStüre geht, knirscht enervierend
unter seinen Füßen der KieS. Er öffnet die Sür
und betritt den Schauplatz welcher Feste! In-
dem er das Licht an- und gewissenhaft stets
wieder ausknipst, geht er von Zimmer zu
Zimmer, mutig wie ein Schlafwandelnder.
Selbst vor Dianens Bettgemach schrickt er nicht
zurück, ^n dem Zimmer, das die denkwürdige
Bibliothek birgt, läßt er sich am Schreibtisch
nieder, an dem er (wie oft!) seine unordentlichen
Gedanken zu Papier gebracht hat, und ihm ist
sehr elend, wenn er einen Brief beginnt: „Süße
Diane..." Er könnte so vieles schreiben, aber
er kommt nicht weiter. Er wird nachdenklich.
Er denkt daran, wie es kam, daß er sich ihre
Gunst verscherzte. Er sieht die endlose Kette von
Troddeleien, die er sich hat zu Schulden kommen
lassen.

Er vergleicht sich mit Scapinelli.

„Arme Diane!" denkt er.

Warum: arme?

„Db ihr damit geholfen ist?"

Scapinelli ist ein Edelmann, und sie kommt
in geordnete Verhältnisse. „Siehe, wir >ind
allzumal Sroddel..."

Charlot ist sehr weich gestimmt...

Indem er den angefangenen Brief zusammen-
knüllt und einsteckt, bricht er seine Meditation
ab. Er tritt an die Bibliothek und nimmt Ver-
schiedenes heraus: zwei Romane von Flaubert,
die Blümlein des Heiligen Franz und einige
Bände mit obszönen Kupfern. Er tritt wieder

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