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J U G E

36. JAHRGANG

N D

1931 / NR. 51

ID II IE WAAG IE DIE IR GERECHTIGKEIT

VON HUGO HARTUNG

Als Gaetano, 34 Jahre alt und rvegen viel-
fältiger Delikte des öfteren vorbestraft, wieder
einmal ein vergittertes Haus verließ, achtete er
nicht darauf, daß über dem Portal seiner
Zwangsherberge sich eine altersgraue Figur be-
fand, über der auf gemauertem Spruchband
die Worte „Justitia“ standen. Die Gestalt trug
eine Binde über den Augen und hielt in der
Rechten eine Waage, die — obwohl eine der
Schalen Zeit und Wetter £imr Opfer gefallen
war — ihr Zünglein- nach keiner Seite neigte.

Den- Defekt sah Gaetano schon darum nicht,
weil er, von weißem Staub geblendet und vom
Gefühl wiedergewonnener Freiheit überwältigt,
selig die Lider schloß. So stark war sein Glücks-
empfinden, daß er sich gelobte, den anbrechenden
Sommer einer möglichst straffreien Erholung
zu widmen — bei um so besserer Gesundheit
hoffte er im kühleren Herbste den Anforderun-
gen seines Berufes gerecht zu werden.

Gaetano — er war Straßenräuber von
Beruf — bestieg einen Zug, der der Küste ent-
lang nach Norden pendelte. Im Norden lag
ein Städtchen, das dem entlassenen Sträfling
so etwas wie eine Heimat war. Dort wollte
er — seinem eben aufgestellten Programm
gemäß — sich erholen, unb er begann die
Erholung schon jetzt damit, daß er auf-
atmend die wundervolle Luft einsaugte, die
durchs geöffnete Abteilfenster strömend, den
Duft von Orangenblüten mit sich brachte.
Einen ihm gegenübersitzenden bleichen Herrn
widmete er keinen Blick.

Das Schicksal, das menschliche Pro-
gramme nie anerkennt, gedachte jedoch den
ehrlichen Räuber zu Fall zu bringen. Es
bediente sich — wie so oft — eines gran-
diosen Mittels, um sein Opfer aus kindlich
heiterer Ruhe wieder in alte böse Gewohn-
heiten zurückzustoßen, — kurz, um Gaetano
auS den ihm selbst noch ungewohnten mora-
lischen Gleisen zu werfen, stieß eS den
Küstenzug auS den gewohnten eisernen. DaS
knirschende Entsetzen einer Katastrophe schnitt
durch die linde Blütennacht, und keiner
achtete in der allgemeinen Verwirrung auf
einen Mann, der ohne alle Habe zwei
Stunden zuvor den Zug bestiegen hatte, und
der jetzt mit einer prallen Aktentasche von
umgestürzten Waggons fort- und den dunk-
len Bergen zueilte.

Gaetano sah sich auf solche Weise wider
Willen gestrauchelt und im Besitz eines Beute-
stückes. Doch barg die Aktentasche statt der
erwarteten Banknotenbündel lediglich ein Bündel
beschriebener Blätter, die sich als das Roman-
manuskript eines gewissen Herrn Fabrizio ent-
puppten. Mit dieser Entdeckung schwand die
Fata Morgana eines Gefängnisses am Hori-
zont seiner Furcht — und der FunduS seiner
Träume wurde um das Bild einer amerikani-
schen Reise ärmer. Dennoch las Gaetano die
beschriebenen Bogen.

Fabrizio war ein Schriftsteller unter tausend
gleichen. Er schrieb im Solde kleiner Provinz-
blätter, in denen seine bis zum Exzeß keuschen
Jungfrauen als Anhängsel 511 verkaufender
Nutzkühe erschienen und seine großherzigen
Grafen bürgerlich enge Familienaffären über-
strahlten. Das Manuskript, das der entlassene
Sträfling im Augenblick der Katastrophen-
wirrniS entwendet hatte, war vom gleichen Zu-
schnitt wie alle Fabrizios vorher: Die Welt
darin lag in rosenrotem Licht, die Frauen

H. Eisbein

waren nach dem Rezept nationaler Hymnen
gefertigt, die Männer entsprechend edel — die
Jugend war fröhlich, soweit Gesetz und jeweilige
Hausordnungen es gestatteten, und dem Alter
verplätscherten die Tage in biblischer Heiterkeit.
Bei Trompetengeschmetter im milden Abend-
schein durfte der Gute auf Schlachtfeldern
sterben, zum Strohtod im ehrlosen Bett war
der Schurke verurteilt.

Der Räuber Gaetano, da er las, sah mit
wachsendem Erstaunen lind begehrend eine
schön geordnete Welt, in die er bisher als böser
Werwolf zerstörend eingedrungen war.

Er weinte, als im vorletzten Kapitel der
Schurke starb — da ihm ein Menetekel
des eigenen Schicksals zwischen den Zeilen
flammte — er atmete auf, als im letzten
die triumphierende Gerechtigkeit soziale bln-
gleichheiten mit sanft ordnender Hand aus-
glich.

Gaetano sehnte sich nach dem Lichte von
Fabrizios Romanwelt, und nach Buße und
erhaltener Absolution in der Heimatkirche be-
gann er ein Leben voll idealer Vorsätze.

Den Schriftsteller Fabrizio schleuderte
jenes schrille nächtliche blnglück aus der
gewohnten Welt seiner Vorstellungen in eine
ihm völlig neue.

Kaum erwacht aus dumpfem Erschrecken
über eine körperliche- Verletzung, wurde er
in neues Entsetzen gestürzt durch den Ver-
lust seines Manuskriptes. Das Werk eines
Jahres der Entbehrungen und seliger Ekstasen
war ihm damit entrissen — *•-*«

Werk, das er selbst in '

provinzialhauptstädtischen
gen wollen, war das O;
technischen Versagens und
fremden menschlichen Tücke geworden.

In seinen Romanen wurde Menschen-
tücke jeweils durch die waltende Gerechtig-
keit gesühnt. Darum baute Fabrizio auf
die Gerechtigkeit, darum bat er an Plakat-
säulen und in Zeitungen um Rückgabe sei-
nes geraubten Kindes, darum bot er ein
Lösegeld, das ihm — in engen Verhält-
nissen lebend — ein Vermögen schien.

Zwei Jahre wartete er starr, untätig,
vergeblich, indes er dem Hungertod nahe-
kam — indes die Welt stch seiner Seele
wandelte. Die Grafen und die Jungfrauen,

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