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DieSchmuggler K. Walser
r-'
die tapferen Helden lind die heitern Greise van
gestern lösten sich in Schemen auf, die im
harten, klaren ZaQ der gegenwärtigen Wirk-
lichkeit zerflossen. Der fröhliche Fabrizio wurde
in zweimal zwölf Monaten zu einem selt-
samen Grübler, den in einer jähen Stunde eine
nie gekannte Stimme leidvolle Worte schreiben
hieß.
Zehn Jahre nach seiner letzten Entlassung
aus dem Gefängnis saß der Bürger Gaetano
mit Frau und Kind Ln einem Gärtchen, über
dem der Frühlingsdust lag. Der Dust war
stark wie in jener SchicksalSnacht, die den Fluch
eines Raubes dem Räuber zum Segen werden
ließ — aber der kleine Beamte Gaetano, der
etwas dicklich geworden war, konnte nicht mehr
so tief atmen wie einst der große Räuber Gae-
tano. Vor ihm lag. das Buch des Dichters
Fabrizio, von dem alle Welt bewundernd sprach,
und von dem man wußte, daß er trotz großen
Reichtums in düsterer Zurückgezogenheit schuf.
Gaetano gedachte, das Buch am behaglichen
Feierabend seiner Frau vorzulesen.
Wie enttäuscht war der gute Bürger Gae-
tano, als statt der sonnigen Traumwelt des
ehemaligen Fabrizio, die i h m zur Wirklichkeit
geworden war, im Werk des neuen Fabrizio
eine Wirklichkeit sich fand, die nach seiner
Meinung nur in verwirrten Dichterträumen
existieren konnte. Als er gar bei der Lektüre
an eine Stelle kam, wo der Dichter an die
Betrachtung einer steinernen Justitia — die er
während eines Spazierganges im Süden ge-
sehen haben wollte — weitläufige moralische
Folgerungen knüpfte, da legte er das Buch mit
einem entrüsteten Ausruf zur Seite. Stand
doch nicht anders da geschrieben, als „die Ge-
rechtigkeit müsse eine Gauklerin sein: sie wolle
durch eine Binde vor den Augen zwar den An-
schein der Unparteilichkeit erwecken, aber sie
wisse sehr wohl, daß ihre Waage auch beim
Fehlen der einen Schale doch immer in der
Schwebe bliebe;
denn aus Stein ist das Zünglein der
Waage,
dem steinernen Balken verhaftet."
So gut Gaetano wußte, daß jenes Roman-
manuskript, das er wie. eine Reliquie aus-
bewahrte, im tiefsten Grunde moralisch war,
da eS einen ausgestoßenen Räuber zum ehren-
geachteten Staatsbeamten hatte wandeln kön-
nen — so entschieden mußte er die für Moral
sich ausgebende Meinung des heutigen Fa-
brizio als zerstörenden Nihilismus von >ich
weisen...
Seines Ärgers ledig zu werden u,.o oen auf
so unerwartete Weise gestörten Feierabend in
vorgesehener Harmonie ausklingen zu lagen,
rief Gaetano sein jüngstes Töchterchen herbei:
Man möge das Grammophon aufziehen,
befahl er mit entschiedener Stimme. Als dies
geschehen war, legte der große Gaetano eigen-
händig seine Lieblingsplatte auf die kreisende
Scheibe — und während die knirschende Na-
del kriegerisches Trompetengeschmetter erzeugte,
schloß er die Augen und sah sich träumend aus
einem Schlachtfeld sterben, über dem die milde
Abendröte stand.
*
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DieSchmuggler K. Walser
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die tapferen Helden lind die heitern Greise van
gestern lösten sich in Schemen auf, die im
harten, klaren ZaQ der gegenwärtigen Wirk-
lichkeit zerflossen. Der fröhliche Fabrizio wurde
in zweimal zwölf Monaten zu einem selt-
samen Grübler, den in einer jähen Stunde eine
nie gekannte Stimme leidvolle Worte schreiben
hieß.
Zehn Jahre nach seiner letzten Entlassung
aus dem Gefängnis saß der Bürger Gaetano
mit Frau und Kind Ln einem Gärtchen, über
dem der Frühlingsdust lag. Der Dust war
stark wie in jener SchicksalSnacht, die den Fluch
eines Raubes dem Räuber zum Segen werden
ließ — aber der kleine Beamte Gaetano, der
etwas dicklich geworden war, konnte nicht mehr
so tief atmen wie einst der große Räuber Gae-
tano. Vor ihm lag. das Buch des Dichters
Fabrizio, von dem alle Welt bewundernd sprach,
und von dem man wußte, daß er trotz großen
Reichtums in düsterer Zurückgezogenheit schuf.
Gaetano gedachte, das Buch am behaglichen
Feierabend seiner Frau vorzulesen.
Wie enttäuscht war der gute Bürger Gae-
tano, als statt der sonnigen Traumwelt des
ehemaligen Fabrizio, die i h m zur Wirklichkeit
geworden war, im Werk des neuen Fabrizio
eine Wirklichkeit sich fand, die nach seiner
Meinung nur in verwirrten Dichterträumen
existieren konnte. Als er gar bei der Lektüre
an eine Stelle kam, wo der Dichter an die
Betrachtung einer steinernen Justitia — die er
während eines Spazierganges im Süden ge-
sehen haben wollte — weitläufige moralische
Folgerungen knüpfte, da legte er das Buch mit
einem entrüsteten Ausruf zur Seite. Stand
doch nicht anders da geschrieben, als „die Ge-
rechtigkeit müsse eine Gauklerin sein: sie wolle
durch eine Binde vor den Augen zwar den An-
schein der Unparteilichkeit erwecken, aber sie
wisse sehr wohl, daß ihre Waage auch beim
Fehlen der einen Schale doch immer in der
Schwebe bliebe;
denn aus Stein ist das Zünglein der
Waage,
dem steinernen Balken verhaftet."
So gut Gaetano wußte, daß jenes Roman-
manuskript, das er wie. eine Reliquie aus-
bewahrte, im tiefsten Grunde moralisch war,
da eS einen ausgestoßenen Räuber zum ehren-
geachteten Staatsbeamten hatte wandeln kön-
nen — so entschieden mußte er die für Moral
sich ausgebende Meinung des heutigen Fa-
brizio als zerstörenden Nihilismus von >ich
weisen...
Seines Ärgers ledig zu werden u,.o oen auf
so unerwartete Weise gestörten Feierabend in
vorgesehener Harmonie ausklingen zu lagen,
rief Gaetano sein jüngstes Töchterchen herbei:
Man möge das Grammophon aufziehen,
befahl er mit entschiedener Stimme. Als dies
geschehen war, legte der große Gaetano eigen-
händig seine Lieblingsplatte auf die kreisende
Scheibe — und während die knirschende Na-
del kriegerisches Trompetengeschmetter erzeugte,
schloß er die Augen und sah sich träumend aus
einem Schlachtfeld sterben, über dem die milde
Abendröte stand.
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