Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
JAHRGANG

N D

1931 / NR. 52

oevre

VON GEORG VON DER VRING

Schon am Weihnachtsmorgen gibt es Streit.
Man hatte den Ofen so wüst angeheizt, daß
die Barackendecke brannte; ich stieg mit den
Barschen aufs Dach, Beile nahmen wir mit,
Wasser wurde in Eimern gereicht; während
lütt* löschten, kamen all die Offiziere aus den
anderen Stuben, manche wurden sogar frech,
ein Oberleutnant sprach von „Kindereien" —
meine Weihnachtöstimmung hob sich nicht da-
durch.

Mittags wieder blnangenehmeö. Der Kom-
pagnieführer hat für heute abend eine Feier
im Wappremontwalde vor; dieser Hauptmann
verehrt den Schriftsteller Hermann LönS, und
so will er den Weihnachtsabend im verschneiten
Walde, Fernstecher und Karabiner für Sauen
umgehängk, verbringen. Wir haben Vollmond,
sagt er zu mir. Sie, junger Leutnant, sind ein-
geladen. Sogleich sieht er an meinem Gesicht,
daß ich keine Lust habe. Das stimmt, denn ich
möchte mir für heute abend das Buch „Anna
Karenina" vornehmen. Er merkt es und gibt
mir in seiner Wut sogleich eine Arbeit, die mir
den Nachmittag fortnehmen wird; für diesen
Dienst hat er gestern noch einen Feldwebel be-
stimmt; heute mich, weil ich keine LönS-
stimmungen mag. Ich verabschiede mich
kurz, wie David von Saul; ich habe
ihn im Grunde gern, diesen Jäger, trotz-
dem ich ihn aufs Haar genau kenne.

bim zwei Uhr nachmittags Abfahrt
im Dogcart; zehn Grad Kälte, die Spit-
zen meines Mantelkragens sind alsbald
weiß von meinem erfrorenen Atem;

Schulz als Pferdehalter mit. Als wir
die Haute -Fourneau- Deiche erreichen,
schießt der Franzose Splitter aus dem
Eise. Uber den Wipfeln der Eichen
fliegen Hunderte von Tauben.

Im Communewald drinnen ist es
still und windlvS. Der Schnee ruht wie
lauter Verbandwatte auf den verwun-
deten Bäumen. An die Hügel von Ver-
dun dröhnen unsre Einschläge; es hallt
durch den Wald, als werde irgendwo
die WeihnachtStrommel gerührt.

Mein Auftrag lautet: ich soll den
Maschinengewehroffizier der eben ein-
geschobenen Division durch die M.G.-
Stellungen des Waldes führen; ich er-
warte demnach einen älteren Hauptmann
oder einen Major. Schon feit einiger Zeit

fährt vor uns ein hochrädriger Wagen. Als
wir ans Etraßenkreuz kommen, sehe ich ihn
halten; ein junger Leutnant ist herausgesprungen
und stampft sich Wärme. Er schaut durch eine
blonde Hornbrille herüber, kommt her und
stellt sich vor; ich erfahre, daß er „Sohn"
heißt.

Nein, sein Major sei nicht selber bei der
Partie, denn er wolle heute einen tüchtigen
Trunk tun und trage Sorge, daß man nicht
zu spät damit beginne.

Herr Sohn redet von einer Hechtspeise und
diversen Weinen, blnd die Mannschaften?
frage ich. Drei Faß Bier, erzählt er.

Pfui Teufel, sage ich. Sind Sie Sozia-
list? fragt er. Nein, aber Bier ist doch viel zu
kalt. ..

So gehen wir ziemlich einsilbig zu den Stel-
lungen.

Sie sind unterm Schnee gar nicht ein-
fach zu finden. Endlich, da ich sie nach der
Karte ausfindig mache, zeigt es sich, daß sie
voll Wasser und also jetzt fußdick zugefroren
sind; alle Unterstände bis an den Hals voll
Wasser und Eis, daS ergibt im Falle der Be-

setzung immerhin eine nette Rutschbahn. Und
Herr Sohn beginnt zu schlittern, her und hin.
Was soll man hier anderes tun — so begebe
anch ich mich ans Schlittern. Und plötzlich sind
wir zwei trotz Weltkrieg und ernsthaften Vor-
gesetzten wieder zu JungenS geworden — wir
schlittern auf den abgesoffenen und überfrore-
nen Unterständen des Abschnitts Verdun.

Denken Sie nicht mehr an das kalte Bier
der Mannschaften, sagt Sohn, die haben
nämlich bessere Därme als wir. Schluß da-
mit, antworte ich, und wir gehen durch den
verschneiten Wald. Unsre Mäntel streifen
Schnee von den kleinen Tannen. Diese Tannen
sind ebenso klein wie die Weihnachtsbäume
unsrer Kindheit, die noch gar nicht so lange
vergangen ist. Und plötzlich fangen wir vor
lauter Kälte und Kindlichkeit an, uns mit
Schneebällen zu werfen. Die zerstäubenden
Bälle reißen noch mehr Schnee aus den Zwei-
gen. So sind wir rasch warm geworden und
schnaufen aus.

Wissen Sie, schreit Sohn, so einen Kerl,
wie Sie sind, habe ich mir schon lange gesucht
— und er rennt durch den Winterwald, wo
viele aufgeschenchte Drosseln sich in alle
Richtungen auseinanderstreuen. So ge-
langen wir an jene Lichtung, welche die
1916 auf der Suche na
beschossen haben. Hier lieg
die Baumstämme kreuz und quer; w
umlaufen sie, kommen in ein neu
Tannengehege, bleiben stehen und b
ginnen wieder, die Bälle zu schleuder
Denk doch mal an Weihnachten, schr«
Sohn. Ich tue es nicht, gebe ich ih:
zurück. Dann sagt er: Tauschen w
also unsre Taschenmesser. Wir bleibe
stehen und tun es. MeinS i)t recht g>
wöhnlich, das feine hat Perlmuttei
schalen; aber der Tausch verdrieül. ih
nicht. Wir tänzeln weiter und fange
an zu summen: O Tannenbaum,

Tannenbaum ...

klnd im Weiterschreiten erblicken wi
etwas, nämlich eine Eisenbahn — seh
ich einen winzigen Augenblick lang ein
elektrische Eisenbahn vor mir schwur
durch den weißen Wald gleiten, wi>
über die schneeweiße Decke deS Weih
nachtStifcheS... sie gleitet ohne Laut
schiebt einen Wagen mit einer Kanone

I

818
Register
Erich Wilke: Wiederbelebungsversuche
 
Annotationen