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J U G E

3 7. JAHRGANG

N D

1 9 3 2 / N R. 2

er vene&iavu cne

Von P. Muratow

Jjn dem kleinen Zimmer war alles so, als ab
der Anlvalt eben seinen letzten Klienten hinauS-
geleitet hätte.

Die Wirtin trat in das Zimmer. Ich ver-
neigte mich vor der alten Dame im Trauer-
kleide mit lebhaften, sympathischen Angen. Wir
setzten unS. Signora Moricci befreite mich
von der Peinlichkeit meiner Lage.

„Ich weiß, was Sie hierhergeführt hat",
sagte sie einfach und fügte mit einem leichten
Seufzer hinzu: „Was soll ich tun, in meiner
Lage werden manche Sachen Luxus. Wollen
Sie sich's anfehen?" und sie stand auf. Ich
folgte ihr. Die alte Dame zog eine Draperie
zurück. Vor mir lag ein kleines Kabinett mit
morschen Möbeln auS dem achtzehnten Jahr-
hundert. In einiger Entfernung sah ich einen

altertümlichen, verträumten, tiefen Spiegel voller
Schatten. Wie einfach und unkompliziert schien
mir sein dünner, vergoldeter Nahmen zu sein,
der sein prachtvolles Oval umspannte. Signora
Moricci erriet ineine Enttäuschung, bat mich,
Platz zu nehmen und begann ihre Erzählung.

„Wenn Sie einen alten Spiegel suchen,
Signor, so werden Sie keinen merkwürdigeren
finden, obgleich er so unbedeutend scheint. Si-
gnore PaSguale hat Sie nicht getäuscht, er
hat Ihnen nur keine Erklärungen gegeben. Ich
bin alt, aber nicht abergläubisch. Ich bin ge-
wohnt, alles ruhig und nüchtern zu sehen. In
meinem Nachdenken über diesen Spiegel, in
den ich schon seit einigen Jahren nicht hinein-
geblirkt habe, glaube ich, sein Geheimnis er-
raten zu haben. Er ist in jenen Tagen geschaffen
worden, als die Leute gefühlvoller
und geschickter waren. Sie kann-
ten das Geheimnis, das einen kost-
baren Spiegel zwingt, das mensch-
liche Gesicht nicht so wiederzu-
spiegeln, wie daS Auge des ersten
besten eS sieht und wie gewöhn-
liche Spiegel eS wiedergeben.Wenn
wir in diesen Spiegel sehen, er-
blicken wir uns nicht so, wie wir
unS im Alltag kennen. Sie sind
wahrscheinlich Künstler oder Ver-
ehrer alter Gemälde, und ich
brauche Ihnen nicht zu erzählen,
wie die Tiefen der Schatten, die
Färbung der Haut, der Glanz
der Augen das Gesicht verändern.
Die Maske der Gleichgültigkeit
fällt plötzlich von uns, und wir
leben aus voller Kraft in einem
Blick. Wir lieben oder hassen,
triumphieren oder verzweifeln, daS
Lächeln der Freude oder die Gri-
masse der Enttäuschung krümmt
unsere Lippen, wir stehen Gesicht
zu Gesicht mit unserem Schicksal,
das mit unauslöschlichen Buch-
staben in unsere Züge geschrie-
ben ist."

Ich blickte erstaunt die Vene-

Ich habe mein Versprechen nicht gehalten,
ich habe Ihnen den venezianischen Spiegel nicht
geschickt — einen jener Spiegel, die unS beide
in den Schlössern der NobiliS, in den Trödler-
läden und in den verlassenen Villen an den
blfern BrentaS entzückt haben. Sein schwarz
und silbern spiegelndes Glas wird Ihre Augen
nicht wiedergeben, der bizarr gebogene, goldene
Rahmen wird nicht an der Wand Ihres Dorf-
zimmers den magischen Scherben umschließen.
Ich sehe dieses Zimmer jetzt vor mir. Ich kenne
den Garten davor, die Terrasse im Kreise der
alten bllmen, die Blutfarbe der Dämmerung am
Abendhimmel, die die stille Oberfläche der stillen
Seen kaum färbt.. .

Ich wollte mein Versprechen erfüllen. Sie
haben unseren Freund Zenaro PaSguale nicht
vergessen? Wir berieten zusam-
men. Die Lust seiner DekorationS-
und Vergoldungswerkstatt, durch-
tränkt mit Farben- unb Jpol^
geruch, tat mir wohl. In dem
Wunsche, mir zu helfen, zog Ze-
naro PaSguale die Stirn kraus
und drehte in den Händen einen
langen, seidigen Holzspan. Plötz-
lich leuchtete sein Gesicht listig
aus...

Ich verließ die Werkstatt mit
einer Adresse in der Tasche, die
von der Hand Zenaro PaSgualeS
geschrieben war. blnd doch hatte
ich von ihm nicht nur einen alten
Spiegel verlangt. Sein GlaS sollte
ohne den geringsten Fehler, sein
Rahmen von einer besonders ge-
schickten Hand gebeugt und ge-
schnitzt sein.

Ich fand ohne Mühe die mir
angegebene Wohnung der Signora
Moricci. Ein blank geputztes
Messingschild verriet den Advo-
katenberus ihres seligen Gemahls,
für den die Witwe eine krank-
hafte Pietät bewahrt haben sollte;
aber nichts deutete auf die von
mir hier erwarteten Kostbarkeiten.

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Register
Ernst Hermann Holthoff: Zeichnung ohne Titel
Pavel Pavlovic Muratow: Der Venezianische Spiegel
 
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