bemannte Sitz in Matthias' Boot bespannt iff.
Müde imb versunken paddelt Matthias hinter
Paul her.
Noch einen Tag haben sie bis zum Rhein zu
sahren. Eine Nacht liegt dazwischen. Still
und dunkel ist es im Ort. Marie ist zu Bett
gegangen, aus Paul und Matthias wartet das
Stroh. Beide sitzen in einer Straußwirtschaft
bei jungem, spritzigem Wein, wie ihn der Berg
schus. Sie sind die einzigen Gäste in der kleinen
Stube. Der schwerhörige Wirt, ein Winzer,
schläst in der Ecke. Paul ist betrunken. Er,
der sonst verschlossen ist, spricht erregt. „Weißt
du auch, warum ich heute mittag so lange auS-
blieb?" — NcatthiaS zuckt die Achseln. „Ich
will eS dir sagen. — Die Einkäuse hatte ich
besorgt und war schon aus dem Weg zu den
Booten, als mir einsiel, daß ich das Wasser
vergessen hatte. Kurz entschlossen ging icb
daher in daS Nächstliegende Bauernhaus. Es
W. Herzberg
war niemand in dem großen Haus als ein
jämmerlich verkrüppeltes Mädchen. So klein
war sie — Paul zeigt zum Ansatz seiner Brusi
— und ihr Gesicht so groß wie meine Hand.
Sie goß mir Wasser in die Kanne und sah mich
mit traurigen Augen an. Ich frug sie, ob ich
einmal austreten könne, woraus sie mir die
Stelle im Hof wies. Als ich zurückkam und
mir die Hände wusch, stand sie immer noch am
Wasserhahn, dessen Rohr sie mit ihren dünnen,
durchsichtigen Händen umklammert hielt. Sie
sah mich an mit ihren großen, stillen Augen.
Da kain eS aus eininal über mich. Ich legte
ineinen Arm um sie und küßte sie. Sie um-
schlang mich heftig. Ich mußte sie noch mehr
küssen. Doch sie machte sich frei von mir.
„Jetzt mußt du gehen", sagte sie; „denn sie
können jeden Augenblick vom Feld kommen." —
Als ich ihr die Hand gab und die Kanne nahm,
sagte sie: „Aber du kommst wieder..." — So,
jetzt weißt du, weshalb ich so lange ausblieb
und warum ich inich betrinke. Kannst du eS
verstehen? Dieses arme, verkrüppelte Mäd-
chen, voller Sehnsucht und so ganz allein, Ich
war so hilflos, weil mein Mitleid so groß war.
Hilflos war ich..."
Im Gasthaus schlief Marie in dieser Nacht,
einsam und allein. Paul lag neben Matthias
im Stroh. Flußaufwärts schlief das verkrüp-
pelte Mädchen im Dorf und war einsamer
denn je. Aber ihr Traum war ein erfülltes,
inniges Leben.
VON ERICH ROHDE
Der Dichter Kimmelberg saß am Ofen und
trocknete seine nassen Socken. KimmelbergS
Schuhwerk erwies sich dem heimtückischen
Schneewasser der letzten Tage immer weniger
gewachsen, auf der anderen Seite flössen die
Einnahmen vorerst so spärlich, daß es nicht rat-
sam schien, ein Paar neue Schuhe zu kaufen.
Während Kimmelberg mit innerer Bewegung
den Erfolg seines Bemühens um warme und
trockene Füße erwartete, öffnete sich unvermutet
die Türe seines kleinen Zimmers, und eine sehr
schöne und junge Dame trat ein. Sie sah sich
triumphierenden Blickes um und sagte selbst-
bewußt: „Da bin ich, ich finde stets den Weg,
mich hat noch niemand zurückhalten können."
Da der Dichter Kimmelberg niemals Damen-
besuch erhielt und schüchternen Wesens war,
sah er über die kühne Behauptung seiner Ab-
geschlossenheit und strengen Bewachung freund-
lich hinweg und, seine Füße unter dein Stuhl
verbergend, war er bemüht, eine möglichst gute
Figur zu machen. Die junge Dame, die Platz
genommen hatte, half ihm schnell über die Ver-
legenheit hinweg und bemerkte mit reizendem
Lächeln: „Nun sitze ich also endlich dem großen
Dichter gegenüber. Bitte, erzählen Sie mir
etwas von sich — erzählen Sie mir etwas von
Ihrem neuen Stück, das vor zwei Tagen ur-
aufgeführt wurde. Ein Dichter ist ja riesig
interessant..."
Kimmelberg wehrte bescheiden ab. „Von mir
will ich nichts erzählen", sagte er, — „aber
über mein Stück..."
„Also sprechen Sie von Ihrem Stück", rief
die junge Dame. „Diese Vereinigung von selt-
samem Spiel, Eleganz und wundervoller Stim-
mung — nie werde ich das vergessen."
„DaS Seltsame, das Sie erwähnen", begann
Kimmelberg — „diese Schatten von Menschen
in den schwarzen Röcken, die weißgeschminkten
Puppengesichter, die maschinenartigen Bewe-
gungen der auftauchenden und abgehenden
Personen — diese Idee ist leider nicht von mir,
sondern vom Direktor des Theaters."
„So", sagte die junge Dame, weiter nichts.
Kimmelberg seufzte und fuhr fort: „Auch die
Eleganz, dieser plötzliche Wechsel im dritten
Akt, mit den Frauen in den phantastischen
Seidengewändern und den vom mit Recht
verzweifelten Himmel fallenden Girls in den
Badeanzügen der Firma ,Formenschlankh war
Zeitalter der Meisterschaften
Und in diesem Dahr hoffe ich mit vierhundertfünfzig Kilometer Gemäldegalerien einen
neuen Weltrekord aufzustellen!"
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Müde imb versunken paddelt Matthias hinter
Paul her.
Noch einen Tag haben sie bis zum Rhein zu
sahren. Eine Nacht liegt dazwischen. Still
und dunkel ist es im Ort. Marie ist zu Bett
gegangen, aus Paul und Matthias wartet das
Stroh. Beide sitzen in einer Straußwirtschaft
bei jungem, spritzigem Wein, wie ihn der Berg
schus. Sie sind die einzigen Gäste in der kleinen
Stube. Der schwerhörige Wirt, ein Winzer,
schläst in der Ecke. Paul ist betrunken. Er,
der sonst verschlossen ist, spricht erregt. „Weißt
du auch, warum ich heute mittag so lange auS-
blieb?" — NcatthiaS zuckt die Achseln. „Ich
will eS dir sagen. — Die Einkäuse hatte ich
besorgt und war schon aus dem Weg zu den
Booten, als mir einsiel, daß ich das Wasser
vergessen hatte. Kurz entschlossen ging icb
daher in daS Nächstliegende Bauernhaus. Es
W. Herzberg
war niemand in dem großen Haus als ein
jämmerlich verkrüppeltes Mädchen. So klein
war sie — Paul zeigt zum Ansatz seiner Brusi
— und ihr Gesicht so groß wie meine Hand.
Sie goß mir Wasser in die Kanne und sah mich
mit traurigen Augen an. Ich frug sie, ob ich
einmal austreten könne, woraus sie mir die
Stelle im Hof wies. Als ich zurückkam und
mir die Hände wusch, stand sie immer noch am
Wasserhahn, dessen Rohr sie mit ihren dünnen,
durchsichtigen Händen umklammert hielt. Sie
sah mich an mit ihren großen, stillen Augen.
Da kain eS aus eininal über mich. Ich legte
ineinen Arm um sie und küßte sie. Sie um-
schlang mich heftig. Ich mußte sie noch mehr
küssen. Doch sie machte sich frei von mir.
„Jetzt mußt du gehen", sagte sie; „denn sie
können jeden Augenblick vom Feld kommen." —
Als ich ihr die Hand gab und die Kanne nahm,
sagte sie: „Aber du kommst wieder..." — So,
jetzt weißt du, weshalb ich so lange ausblieb
und warum ich inich betrinke. Kannst du eS
verstehen? Dieses arme, verkrüppelte Mäd-
chen, voller Sehnsucht und so ganz allein, Ich
war so hilflos, weil mein Mitleid so groß war.
Hilflos war ich..."
Im Gasthaus schlief Marie in dieser Nacht,
einsam und allein. Paul lag neben Matthias
im Stroh. Flußaufwärts schlief das verkrüp-
pelte Mädchen im Dorf und war einsamer
denn je. Aber ihr Traum war ein erfülltes,
inniges Leben.
VON ERICH ROHDE
Der Dichter Kimmelberg saß am Ofen und
trocknete seine nassen Socken. KimmelbergS
Schuhwerk erwies sich dem heimtückischen
Schneewasser der letzten Tage immer weniger
gewachsen, auf der anderen Seite flössen die
Einnahmen vorerst so spärlich, daß es nicht rat-
sam schien, ein Paar neue Schuhe zu kaufen.
Während Kimmelberg mit innerer Bewegung
den Erfolg seines Bemühens um warme und
trockene Füße erwartete, öffnete sich unvermutet
die Türe seines kleinen Zimmers, und eine sehr
schöne und junge Dame trat ein. Sie sah sich
triumphierenden Blickes um und sagte selbst-
bewußt: „Da bin ich, ich finde stets den Weg,
mich hat noch niemand zurückhalten können."
Da der Dichter Kimmelberg niemals Damen-
besuch erhielt und schüchternen Wesens war,
sah er über die kühne Behauptung seiner Ab-
geschlossenheit und strengen Bewachung freund-
lich hinweg und, seine Füße unter dein Stuhl
verbergend, war er bemüht, eine möglichst gute
Figur zu machen. Die junge Dame, die Platz
genommen hatte, half ihm schnell über die Ver-
legenheit hinweg und bemerkte mit reizendem
Lächeln: „Nun sitze ich also endlich dem großen
Dichter gegenüber. Bitte, erzählen Sie mir
etwas von sich — erzählen Sie mir etwas von
Ihrem neuen Stück, das vor zwei Tagen ur-
aufgeführt wurde. Ein Dichter ist ja riesig
interessant..."
Kimmelberg wehrte bescheiden ab. „Von mir
will ich nichts erzählen", sagte er, — „aber
über mein Stück..."
„Also sprechen Sie von Ihrem Stück", rief
die junge Dame. „Diese Vereinigung von selt-
samem Spiel, Eleganz und wundervoller Stim-
mung — nie werde ich das vergessen."
„DaS Seltsame, das Sie erwähnen", begann
Kimmelberg — „diese Schatten von Menschen
in den schwarzen Röcken, die weißgeschminkten
Puppengesichter, die maschinenartigen Bewe-
gungen der auftauchenden und abgehenden
Personen — diese Idee ist leider nicht von mir,
sondern vom Direktor des Theaters."
„So", sagte die junge Dame, weiter nichts.
Kimmelberg seufzte und fuhr fort: „Auch die
Eleganz, dieser plötzliche Wechsel im dritten
Akt, mit den Frauen in den phantastischen
Seidengewändern und den vom mit Recht
verzweifelten Himmel fallenden Girls in den
Badeanzügen der Firma ,Formenschlankh war
Zeitalter der Meisterschaften
Und in diesem Dahr hoffe ich mit vierhundertfünfzig Kilometer Gemäldegalerien einen
neuen Weltrekord aufzustellen!"
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