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37. JAHRGANG

G E N D

1 9 3 2 / NR. 6

tiwiwie

VON WILHELM. LICHTEN BERG

Rita war auf einen Sprung zu Gerda ge-
kommen. „Nicht viel Zeit, Liebste, nicht viel
Zeit. Aber nachfehen wollte ich doch, ob die
Katastrophe schon eingetreten ist."

Gerda lachte: „Nein, beruhige dich! Die

Katastrophe ist noch nicht eingetreten. Paul
hat sich noch nicht erklärt."

„Schade", meinte Rita mit ehrlichem Mit-
gefühl, denn sie war bereits feit zwei Monaten
verlobt. „Schade! Paul ist reizend! Ich würde
dir die Katastrophe von Herzen gönnen."

„Danke. Paul ist wirklich entzückend. Aber
was soll ich tun? Ich kann mich ihm doch nicht
an den Hals werfen!"

„Ist er schüchtern?"

„Schüchtern nicht. Aber ein biß-
chen gründlich. Na, du weißt ja,

Katastrophen bereiten sich immer
lange vor. Warten wir also."

„Schön. Wenn du Geduld
hast... Aber jetzt muß ich wieder
gehen! Mein Heini wartet. Leb
wohl! bind — gute Katastrophe!

Wenn es so weit ist, rufst du mich
sofort an!"

„Ja, sofort. Verlaß dich dar-
auf."

Das Mädchen erschien und
brachte ein kleines, kreisrundes
Paketchen in einem sorgfältig ver-
schnürten Karton. „Von Herrn
Paul Sitte", sagte sie und ging
wieder.

„Da hast du es!" meinte Gerda
enttäuscht. „So ist er! Geschenke!

Blumen! Aufmerksamkeiten! Aber
kein Wort. Ist das nicht zum
Verzweifeln?"

„Was kann in dem Karton
fein?" fragte Rita neugierig.

„Ach Gott! Wahrscheinlich
Karlsbader Oblaten. Ein Anbeter,
der feiner Dame Karlsbader Ob-
laten schickt... Einfach unmöglich!"

„Bitte, öffne! Aber rasch! Ich
möchte doch noch sehen..."

Gerda löste mit gleichgültiger,
starrer Miene die Schnüre des
Paketes und hob den Deckel des
Kartons.

„Eine Grammophonplatte!" rief Rita aus.
Die beiden Mädchen sahen einander verdutzt
an. „Eine Grammophonplatte..." wiederholte
Gerda wütend und wollte die Platte zu Boden
schleudern. Rita siel ihr entsetzt in den Arm:
„Bist du . ..! Wer zerschlägt denn eine Gram-
mophonplatte! Wahrscheinlich singt der Tauber!
Laß mal nachfehen!"

Sie nahm die Platte geschickt in die Hände.
Dann schüttelte sie den Kops: „Nein. Es steht
überhaupt nicht drauf, wer singt. Der bln-
menfch wird dir doch nicht den Chopinfchen
Trauermarsch s ch icken? "

„Es wäre ihm zuzutrauen."

„Weißt du was — lassen wir die Platte
laufen." — „Ach, wozu..."

„Nein! Ich bitte darum! Ich will doch mal
sehen, welchen Geschmack dein Paul hat. Sage
mir, welche Grammophonplatten du schenkst
und ich sage dir, wer du bist!"

Gerda klappte den Deckel des Kosserappa-
rateS aus, drehte ohne Hast die Kurbel und
legte dann die Platte aus. Eine kurze Weile
lang lies die Platte leer. Dann ertönte eine
männliche Stimme. Worte, welche die beiden
Mädchen nicht gleich faßten. „Ach, wahr-
scheinlich — Moissi, der Erlkönig!" sagte Rita
ein wenig spöttisch.

„Unjmn!" meinte Gerda. „Das
ist doch im Leben nicht der Erl-
könig! Das ist ... das ist ...
Ja, tatsächlich! Das ist Pauls
Stimme!"

„Nicht möglich! Nein, so etwas!
Was sagt er?"

„Keine Ahnung! Ich habe doch
den Anfang versäumt!"

„Dann stell' ab und laß die
Platte noch einmal laufen!"

Gerda stellte so rasch ab, daß
Pauls Stimme mit einem Kräch-
zen erstarb. „Oh! Wahrscheinlich
ein Ritzer!" sagte Rita. „Die
Platte ist kaputt!"

Gerda antwortete nichts, drehte
in rasender Hast die Kurbel bis
zum Widerstand und setzte mit
zitternden Fingern die Membrane
an. Paul sprach:

„Gerda! Liebste Gerda! Ich
liebe dich! Und ich bitte dich, die
meine zu werden! Gewiß, ich
hätte es dir auch persönlich sagen
können! Aber ich wählte den
Umweg über die Schallplatte.
Ich selbst habe inzwischen eine
kurze Reise angetreten. Meine
Stimme wird ganz allein für mich
sprechen. Ich meine, liebste Gerda,
daß dieser Moment des ersten
Geständnisses zu heilig ist, um
nachher in den Zeiten verweht zu
werden."

Bei den Worten „in den Zeiten

Vor dem Mozarthaus 3osef Windisch
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Josef Windisch: Vor dem Mozarthaus
Wilhelm Lichtenberg: Die Stimme des Geliebten
 
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