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JUGEND

3 7. JAHRGANG 1 9 3 2 / NR. 7

DAS ABBILD

„Eie heißt Clementina, ich lveiß es jetzt",
murmelte Ivan.

Sein Boot trieb zwischen den Fischerbarken
unter dem Montjuich im Zwielicht, .^cach der
Stadt Barcelona zu flimmerte das Wasser des
Meeres noch golden. Der Berg lag scbon in
stacht und war ganz schwarz. Die Masten
der Schisse schwankten überlang und dunkel
vor den helleren Wellen. 3m -Offen war der
Himmel zugezogen.

Ivan griff in die Brusttasche und holte die
Photographie heraus. Er hielt sie empor in
das letzte Licht. Wieder ein fliehender Dag.
klnd noch keinen Schritt weiter.

Das Bild stellte eine ganz gewöhnliche kata-
lanische Schneiderstube dar. Zwei Mähmaschinen
im Vordergründe, an den Wänden halbfertige
Röcke, Stoffballen auf den Börten, vor dem
großen Fenster der Arbeitstisch und darüber die
l.Ihr. Aus den Bügeln dicht unter der Decke
hingen fertige Kleider, eine Büste mit einem
engangegossenen Sakko stand vor einer Tür,
die anscheinend nie benutzt wurde; die Fliesen
des Fußbodens hatten ein Muster, das an
Krebsscheren erinnerte, und rings aus den
Stühlen herum saß das emsig beschäftigte
Personal. Joan kannte sie alle genau, neun
Damen und zwei Herren. Der Chef stützte
beide Arme aus den Tresen, als verhandelte er
mit einem Kunden. Der Gehilfe machte sich
neben dem Telephon zu schaffen. Die Näh-
mädchen aber sahen von ihrer Arbeit nicht auf.
Die erste rechts war Clementina. Sie zupfte
mit spitzen Fingern ein Stück Seidenstoff unter
die Maschine. Sie saß lässig vornübergebeugt,
ihr schwarzes weiches Haar war durch einen
Scheitel geteilt, ihre Augen konnte Joan nicht
sehen, aber er wußte, wie sie sein mußten:
keine irrenden Lichter, wie Augen oft sind, son-
dern klar und tief lvie das Meer an einem
Junitage. Wie das Meer in einer Juninacht.
Ihre Beine ruhten auf dem Trittbrett der
Maschine, sie waren wie Blütenstengel, klnd
der Nacken hatte etwas Scheues lvie von vielem
Lauschen nach entfernten Sternen. In der
Neigung ihres Gesichtes lvar die Stille zarter

VON RICHARD GERLACH

Erinnerungen, bind doch lvar sie so frisch lvie
ein Frühlingsseufzer. Ivan war diesem Bilde
verfallen. Es lvar eine der üblichen Reklamen,
lvie sie die Modeateliers verschicken, damit die
Käufer sich überzeugen können, lvie adrett und
freundlich bei der Firma soundso gearbeitet
lverde. Ivan hatte es vor einem Vierteljahr
durch Zufall in die Hände bekommen lind trlig
es seitdem über dem Herzen. Er erkundigte sich,
lvo die Firma Sagarra lvohnte. Abend für
Abend strich er dlirch die Straße, aber eS
gelang ihm nicht, das Mädchen zu treffen.
Heute zum erstenmal ging sie ntit den anderen
Mädchen an ihm vorüber, er stand im Tor-
cingang, und er hörte, daß sie Clementina zu
ihr sagten.

Ivan hatte gespart. Morgen würde er in
den Laden Sagarra treten lind sich für einen
Anzug Maß nehmen lassen. Es müßte doch
sonderbar zugehen, lvenn er bei dieser Gelegen-
heit kein Glück hätte. Er ruderte sein Boot
nach dem klfer zurück cmd schleuderte zum
Ouartier Poble-Eec hinauf, wo der Onkel

HansMolpa

Josep das kleine Cafö hatte. Aber als er schon
fast an der Tür lvar, drückte er sich in eine
Seitengasse. Plötzlich hatte er keine Lust mehr.

„Clementina", murmelte er.

Der Gehilfe nahm umständlich die Maße
auf lind schrieb die Zahlen mit einem Füll-
federhalter in ein Buch. Der Anzug lvar ja
nicht billig, aber er lvürde sehr schön lverden.
Ivan hörte die Damen lachen, aber zu sehen
bekam er keine. Er tröstete sich auf die An-
probe, die in drei Tagen sein sollte. Aber auch
diesmal gelang es ihm nicht, einen Blick in
den ArbeitSraum zu werfen. Schließlich bekam
er seinen schönen Anzug in einem eleganten
Karton, bezahlte das viele Geld, und war doch
keinen Schritt weiter. Abend für Abend stand
er in dem Torbogen, hinter dem ein Gelvölbe
mit Eimern, Körben und allerlei Verkäuflichem
war. Der Händler, der hier mit einer Zeitung
zu sitzen pflegte, kannte ihn schon. Joan sah,
lvie der Zeiger der bihr in der Calle Santa
Ana vorrückte, aber für ihn war die Zeit stehen
geblieben. Die Firma Sagarra schloß niemals
um dieselbe Zeit. Wenn zu tun war, mußten
die Mädchen bis Mitternacht Überstunden
machen. Manchmal aber durften sie schon
mittags nach Hause gehen. Aber selbst lvenn
Joan den Augenblick abgepaßt hatte, verließen
die Mädchen in einer Schar das Geschäft und
es war gar keine Möglichkeit, Clementina an-
zusprechen. Anzusprechen? Würde er es denn
wagen? Galt das in dieser Stadt nicht für
verrucht und unmöglich? Joan folgte den durch-
einanderschwatzenden Freundinnen zum Paseo
Gracia. Dort verschwanden sie in der Unter-
grundbahn.

Ivan hatte den Musikanten am Waren-
hauseingang eine große Münze aus den Blecb-
teller gelegt, er fühlte, daß sich heute etwas
ereignen lvürde. Die Luft war so lvarm, daß
er den Hut in der Hand trug. An einem
Blumenstand sah er lange die Tulpen an und
glaubte zu sehen, lvie sie sich langsam öffneten.
Er tastete nach dem Bild in seiner Brußtajche.

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Register
Hans Nolpa: Zeichnung ohne Titel
Richard Gerlach: Das Abbild
 
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