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J U G

37. JAHRGANG

E N D

1932 / NR. 9

EINER DENKT EINMAL NACH

VON WOLFGANG FEDERAU

Der Fabrikant Ungewitter hatte immer eine
besondere Vorliebe für Fremdwörter gehabt.
Auch für ihre praktische Anwendung, Und als
vor einigen Jahren — also zu einer Zeit,
die jetzt schon wie die des verlorenen Paradieses
hinter uns zu liegen scheint — daS Wort
„Rationalisierung" über den großen Teich her-
überkam, dieses schlimme Wort, daS anstecken-
der ist als Cholerabazillen, war Ungewitter
einer der ersten, der eS aufgriff und in die Tat
umzusetzen begann.

Ungewitter rationalisierte. Er stellte Hosen-
träger, Sockenhalter und Sportgürtel her —
und er konnte keinen Grund ausfindig machen,
warum sich die Fabrikation von Hosenträgern
und Sockenhaltern nicht ebenso rationalisieren
lassen sollte wie die von Autos oder von Gummi-
schuhen oder von Mandelreiben.

Es wurde eine fabelhafte Sache. Die Technik
war auf der Höhe, Gott fei Dank, und so gab
eS wenigstens in dieser Beziehung kein Hinder-
nis irgendwelcher Art.

Ungewitter war ein logischer Mensch, und
was er tat, das hatte Hand und Fuß. Schritt
für Schritt ging er vorwärts — aber er machte
sehr große und sehr rasche Schritte. Mit den
Maschinen fing er an. Er hatte immer mit
Maschinen gearbeitet, selbsiverständlich. Wäre
er sonst ein Fabrikant? Aber jetzt führte er
Neuerungen ein, fabelhafte Dinge. Wunder an
Maschinen. Sie schalteten sich selbständig ein,
sie schalteten sich selbständig aus. Sie schmierten
sich selbst, sie putzten sich selbst, sie reparierten
ganz selbständig ihre ab und an austretenden
kleinen Schäden und Mängel. Dann kam die
Fließarbeit, kam das lausende Band. „Kein
moderner Betrieb ohne lausendes Band" war
Herrn Ungewitters stehende Redensart. Auch
das lausende Band war eine glänzende Einrich-
tung. Die Schulung der Arbeiter ging mühelos.
Die Arbeit selbst war mühelos. Jeder hatte
nur einen einzigen Handgriff zu tun, volle acht
Stunden lang. Das Gehirn wurde geschont,
niemand brauchte mehr zu überlegen und zu
grübeln, Ungewitter war sehr stolz aus seinen
Betrieb. Früher hatte er mit neunzig Mann

gearbeitet und täglich allein dreihundert Paar
Hosenträger hergestellt. Jetzt brauchte er nur
fünfundzwanzig Mann und fabrizierte täglich
tausend Stück Hosenträger neben all dem an-
dern. Ohne daß sie schlechter wurden, ohne daß
sie teurer wurden. Im Gegenteil, sie wurden
sogar billiger.

Merkwürdig war es und blieb eS, daß daS
Unternehmen trotzdem von Monat zu Monat
kleinere Gewinne abwarf. Ein nicht ganz ver-
ständlicher Vorgang. „Man muß noch billiger
werden", sagte sich Ungewitter. „Man muß
den GestehungSpreiS der Ware noch mehr ver-
mindern."

An den Maschinen ließ sich leider nichts ein-
sparen — sie brauchten ihren Betriebsstoff, sie
fraßen Zinsen und Amortisation. Daran war
nichts zu ändern, leider.

Ungewitter dachte an die Arbeiter. „Man
muß ihre Löhne senken", dachte er. Aber die
Arbeiter hatten Frauen, hatten Kinder. Sie
schickten ihm eine Abordnung ins Büro, die ihm
vorrechnete, daß man nicht leben könne, wenn
man noch weniger verdiene. Daß man nicht
arbeiten könne, wenn man nicht leben könne.

E. M. E n g e r t

bind daß deshalb eine weitere Verminderung
der Löhne einfach nicht tragbar fei.

Ungewitter hatte ein gutes Herz und einen
offenen Kopf. Er sah das ein. „Gut", sagte
er, „ich will euch nichts Unbilliges zumuten.
Jede Arbeit ist ihres angemessenen Lohnes wert

— das war feit jeher auch meine Meinung."

Dann kaufte er zwei neue Patente auf, mit

deren Hilfe er seinen Maschinenpark weiter ver-
vollkommnete. Er berief einen Ingenieur für
die erste Einrichtung der neuen Betriebsmittel,
und in vierzehn Tagen war er so weit, daß er
auch das lausende Band entbehren konnte. Die
neuen Maschinen machten auch den letzten
inenschlichen Handgriff unnötig.

Da entließ er seine fünfundzwanzig Arbeiter

— ihre Löhne wurden ihnen bis zum Tage der
Entlassung in der alten Höhe gezahlt. Denn
Ungewitter hatte ein Herz, und er hielt, was
er versprach.

In dem großen Fabrikgebäude sausten und
surrten die Maschinen. Blitzende Kolben hoben
und senkten sich in rhythmischen Intervallen,
blankes Gestänge fuhr auf und nieder, elektrisch
betriebene, führerlose Wagen holten die Roh-
stoffe aus den Lagerhallen, warfen sie den gieri-
gen, hungrigen, stählernen Zähnen und Greifern
der Maschinenungetüme vor, die sie hinter sich
als Fertigfabrikate ausspien. Wo sie von ande-
ren Maschinen ergriffen, geprüft, gezählt und
verpackt wurden, um in den Versandraum ge-
schasst zu werden.

Ein einziger Mensch genügte, diesen Betrieb
zu beaufsichtigen. Einen Betrieb, der jetzt sieben-
tausend Hosenträger und ein Dreifaches an
Strumpfhaltern und unzählige Sportgürtel täg-
lich hervorbrachte.

Ungewitter, der Fabrikant Ungewitter, war
begeistert. Er hatte den Sinn der Rationali-
sierung ersaßt. Was er geschaffen, daS macbte
ihm niemand nach.

Die Begeisterung dauerte nicht lange. Unge-
witter hätte jede Nachfrage befriedigen können.
Aber nach ein paar Monaten bestand keine
Nachfrage mehr. Der Markt war übersättigt
mit Hosenträgern, so schien eS.

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Register
Max Engert: Silhouette
Wolfgang Federau: Einer denkt einmal nach
 
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