Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
WI L LY SEIDEL

HUTTERS HräDLEIX

I.

Als der wackere Stadtamtmann Weiprecht das behagliche Haus seines
alten Schulfreundes, des Pfarrers Hilarius Degele, erreicht hatte, wurde
dem unvermuteten Besuch der Bescheid, er möge sich's einstweilen bequem
machen; Hvchwürden seien wvhl kaum vor Ablauf einer Stunde zu er-
warten.

Es dauerte noch länger; es war derweil Mittag geworden; endlich
trat die weißhäuptige Gestalt deS Seelsorgers mit erschöpftem Lächeln
und ausgebreiteten Armen auf ihn zu.

„Nun, das ist mir eine hübsche Überraschung", sprach er etwas atem-
los, „der lang nicht Erblickte... du bleibst natürlich zu Mittag..."

Es gab noch einiges Begrüßungsgespräch und dann sah Weiprecht,
wie das Lächeln erlosch und lediglich die Erschöpfung zurückblieb, wenn
auch das Gespräch unter solch einer Erschöpfung nicht litt. Ja, dieses
wurde vom Pfarrer mit Absicht, gewissermaßen krampfhaft (wie es dem
Freund vorkam) in Fluß gehalten. Als sie dann beim Kaffee saßen,
wagte Weiprecht sich endlich mit der Frage heraus: „Hast du heute vor-
inittag etwas besonders Anstrengendes erlebt?"

Hilarius sah ihn mit einem seltsam leeren Blick der blauen Augen an,
als seien seine Gedanken auf Wan-
derschaft. Zögernd sprach er: „Ja.

Geistig sehr anstrengend. Aber,
so Gott will, krieg' ich eS noch
unter... Kämpf' ich eS noch
nieder. . . das Gezücht..."

„Redest du von Menschen?"

„Nein, nein. Durchaus nur von
Tieren, ünd wenn du willst, nicht
einmal von diesen. Eigentlich nur
von ihren Schatten."

„Marie optime — dunkel ist
der Rede Sinn."

„Ich glaub's gern. So dunkel
dir, wie mir die Sache oft noch
selbst. Übrigens..." und er hob
den Blick scharf, als sei er von der
Wanderschaft ins üntergründige
blitzartig zurückgekehrt — „wenn
ich deinen vertrauenerweckenden
Backenbart, deine goldene, biedere
Brille sehe, so kommt mir's vor,
als dürft' ich dir gegenüber, und
allein dir, meine Seele erleichtern.

Also, mein guter Weiprecht: eS
handelt sich um eine Kranke, zu
der ich heute vormittag gerufen
wurde, und ihre Geschichte ist selt-
sam genug, um erzählt zu werden." Knabe

„Daß du kein schlechter Erzähler bist, das wissen wir ja alle."

„DaS stimmt vielleicht insofern, als ich Außergewöhnliches, ja Uw
schmackhaftes' mundgerecht machen muß, will ich wirksam sein. Das
Wesentliche ist herauszustellen. DaS ist ja auch die Wichtigkeit auf der
Kanzel. Ich darf also hoffen, daß du mich zu Ende hörst. Es ist ein
Menschenschicksal, sehr abwegig. Es wurde mir heute init erschreckender
Deutlichkeit entfaltet." Der geistliche Herr stärkte sich mit einem Schluck
Kaffee. Er krauste die hohe Stirn, schloß die Augen halb; sanfte Röte
wie keimendes Feuer der Intuition stieg in seine Züge, ünd ohne sich ein
einziges Mal im Fluß der Geschehnisse zu wiederholen, berichtete er:
„Draußen vor der Stadt in den Wiesen, mit dem Fundament über den
Bach gebaut, steht heute noch ein verwittertes Haus, ein ehemaliges
Mühlengebäude. Dort arbeitete noch das Rad vor fünfunddreißig Jahren,
aber nur, um eine Handsägerei in Betrieb zu halten. Der Tischler hieß
Reibedanz und hatte einen Gehilfen, niemand wußte, wo der herkam;
einen finsteren Gesellen. Die Frau war tot. Reibedanz war ein Sektierer
von der Art, die sich Neu-Jrvingianer nennt; er hielt sich für den Apostel
Johannes. Das wär' ja nun ein sanfter Irrwahn, wär' nur das Herz
gut gewesen. Aber er war sehr selbstgerecht; grausam gegen sich und

andere; der finstere Gehilfe blieS
ins selbe Horn, ünd dort wuchs
die kleine Serafine auf, mutter-
los, und hatte es nicht gut.

Man zwang den Dater, sie in
die Schule zu schicken bis zu ihrem
vierzehnten Jahr. Aber sie hatte
wenig Freude davon, wiewohl sie
für Stunden ihrem Heim entzogen
wurde, das für sie keines war...
eher eine Hölle. Was die Schule
frommen mochte, verdarb der Va-
ter, indem er ihr alles erworbene
spärliche Wissen auch um unsere
Heilslehre als entbehrlich hinstellte;
indem er sie mit Betübungen und
Fastentagen und dergleichen quälte
und sie auch bei jeder Gelegenheit
prügelte, wenn s'e in der ständigen
Hausarbeit, die sie noch neben der

Schule leisten mußte,

mrückblieb.

Rothaarig war sie und unschön,
mit flachem Kinn und fp^cr
Nase... Grund genug für die
anderen Kinder, sie nach grau-
samer Kinderart zu verhöhnen.
Ich war damals noch nicht hier,
kam erst später hierher. In einem
so umhergescheuchten We>en enb

162
Register
Franz Doll: Knabe
Willy Seidel: Mutters Hündlein
 
Annotationen