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Krisenzeii

„Mein armer Freund,
schnell, erzähle mir, —
was ist bei dir nicht in
Ordnung?!“ „Bei mir?
—- Mir geht es gut!“

„Nun, — öffne mir dein Herz, ich bin doch dein Freund,
zum Teufel!“ — „Aber ich versichere dir, es geht mir

sehr gut.“

„Ohne Spaß, beichte mir deine
Sorgen,... sind es die Ge-
schäfte?“ — „Aber nein, ich
bin sehr zufrieden, es geht mir
wirklich gut.“

„Mein Lieber, du verbirgst mir die
Wahrheit..

„Keineswegs, es geht mir sehr, sehr gut...‘

.. meine Gesundheit ist aus-
gezeichnet, meine Geschäfte gehen
hervorragend, — ich bin sehr zu-
frieden!“

„Armer Kerl, — er wird von Tag zu Tag
wunderlicher...!“

(„Lc Rire“)

Hubel, ber Alke, schrieb einen Brief, steckte
ihn in einen Hmschlag, abressierte ihn fein
säuberlich unb vermerkte in ber linken Ecke:
„Eilt sehr!"

Das unterstrich er bick.

„Gern, Vater", steckte ihn Bubel, ber Junge
in bie Tasche. Nahm seinen Hut unb —

In biesem Augenblick löste sich ein Stuck
Stuck vvn ber Wanb, siel herab aus Bubel,
ben Alten, unb erschlug ihn.

Als breißig Jahre später Bubel, ber Junge,
sein Junge, sein Lebensenbe nahen fühlte, griff
er, wie ungefähr in bie Rocktasche. Bemerkte
einen Brief mit bem Vermerk:

„Eilt sehr!"

„Hm Gottes willen", erschrak er, „ben habe
ich hoch ganz vergessen."

Er erzählte seinem Sohn, baß sein Vater
ihm biesen Brief kurz vor bem Tobe anvertraut
hätte.

Eilt sehr

Vvu Io Hauns R ö s l er

„Ich werbe balb sterben", bat er, „sowie
ich bie Augen geschlossen habe, wirf ben Brief
in ben Kasten."

Der Sohn versprach eS hoch unb heilig.

Fünfzehn Jahre später verunglückte ber
Sohn. Bei einem Autounfall. Hnter ben
Papieren beS Toten fanb sich ber von Bubel,
bem Alten, geschriebene Brief. Mit bem Ver-
merk:

„Eilt sehr!"

Man stellte ihn ben Hinterlassenen zu. Nicht
sofort. Sonbern wieber zehn Jahre später,
nachbem mau ben Llnfall behörblich geklärt
hatte. Diesmal trugen ihn bie Erben ivirklich
zur Post. Steckten ihn in ben roten Postkasten
mit bem Vermerk: „Für eilige Briefe."

Aber bie Tücke beS Objektes klemmte ihn
im Briefkasten fest. Man fanb ihn nach breißig
Jahren. Anläßlich eines gewaltigen ErbbebenS.

Zwischen einer Drucksache. Die Post prüfte ben
Fall. Mit Gebulb unb Gebühren. Dann gab
man ihn an ben Aufgeber zurück, ber sich in-
zwischen verenkelt hatte.

„Der Wille meiner Ahnen ist mir heilig",
frankierte er ben Brief neu, ohne ihn zu lesen,
„ich ivill nicht in sein Geheimnis bringen."

So ging ber Brief zweihunbert Jahre später
an ben Abressaten mit bem Vermerk:

„Eilt sehr!"

Auch ber Abressat war inzwischen gestorben.
Bis ins vierte Glieb. Sein Hrurenkel schnitt
ben Brief auf.

„Lieber Freunb", las er, „bein Sohn
etivas mit meiner Tochter. Es ist höchst
baß sie heiraten."

Der Hrurenkel beS Abressaten eilte zn
Hrurenkel beS Abressanten.

Sie besprachen ben Fall.

Hub siehe, es stimmte.

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[nicht signierter Beitrag]: Krisenzeit
Jo Hanns Rösler: Eilt sehr
 
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