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Erich Wilke

man kein Akrobat, und das spure ich noch jetzt an meinen Nerven.
Anfangs kamst du bei fünfundzwanzig, höchstens dreißig Cent Ein-
nahme, und heute warst du einmal noch nicht bei neunzig Cent da. Die
Leute hätten mich krumm geschlagen, wenn ich den Gulden erreicht und
dagestanden hätte wie ein Idiot. Ich hörte noch, wie jemand unter den
Zuschauern sagte, man könnte eS mir ansehen, wie ich mich vor der
Polizei fürchtete. Der Kerl hätte wißen müssen, wie ich schwitzte, weil
du beinahe zu spät kamst! Und darum wechseln wir uns nun eine
Woche ab, du der Akrobat und ich der Beamte..."

(Übersetzung von W. Blochert)

Ein Tag aus dem Leben eines Diktators

vertrauliche Mitteilungen seines ehemaligen Kammerdieners Krey

6 Uhr: Der Diktator liegt in unruhigem Schlummer. Er träumt
von einer gelungenen Gegenrevolution. Nut einem gewaltigen Schrei
erwacht er.

6,04 Uhr: Sechs bis an die gesunden Zähne bewaffnete Soldaten
stürmen in das Schlafzimmer, in das die Sonne laut Kalender nicht
umhin kann, ihre ersten Strahlen zu werfen.

6,06 Uhr: Die Soldaten reißen die frisch geladenen Karabiner aus
der Scheide und feuern wahllos in alle Ecken und Enden des schlicht-
monumentalen Raumes. Der Mörtel spritzt hoch auf, zerfetzte Dapeten
bedecken daS Parkett.

6,io Uhr: Der Pulverdampf verfliegt. Dom Attentäter fehlt jede

0*) nur

zieht, wuchtig gähnend, aus der Brust-
tasche seines eisernen Pyjamas sechs
Todesurteils-Formulare, packt vom Nacht-
tisch seinen Füll, setzt die Namen seiner
sechs Leibsoldaten, — die niedergeschlagen
vor dem Lager strammstehen, — in die
betreffende Rubrik ein, unterzeichnet mit
einem Hieb und reicht die Zettel dem rang-
ältesten Gardisten zur weiteren Erledigung.

6,12 Uhr: Die sechs Mann verlassen
Zimmer und Leben.

6,13 Uhr: Sechs Schüsse fallen unter dem Fenster. Der Ungerechtig-
keit ist Genüge getan. Der Diktator schmunzelt heimtückisch. Die
Sonne beginnt, richtig zu scheinen.

6,15 Uhr: Der Diktator gurgelt, ohne ein Blatt vor den Mund
zu nehmen. Das Haus zittert. Seine Lieblingshyäne „Greta" bellt heiser
vor der Tür.


6, n Uhr: Der Diktat

or

6,i 8 Uhr: Der Diktator holt Greta herein und wirft ihr die Leiche
eines rebellischen Journalisten, die er unter
dem Bett hervorzerrt, zum Fräße vor.

Greta knabbert unlustig an den mageren
Knochen.

6,22 Uhr: Der Diktator runzelt die
Stirn. Greta kaut eifriger und verbeißt
ihren Unmut. Ihre Gedanken sind bei
dem gutgenährten Geistlichen, den sie vorgestern zum Frühstück hatte.

6,25 Uhr: Der Diktator stemmt eine Fünfzigkilo-Hantel zehn Mal.

6.30 Uhr: Der Diktator ordnet feine Toilette und eilt elastisch

auf sein ungesattelteS Morgenpferd.

6.31 Uhr: Der Diktator reitet. Detektive säumen zwanglos seinen

Weg. Eine Gruppe von Landarbeitern
iubelt ihm zu und singt dann im Chor den
Refrain des uralten Volksliedes:

„Hei, wie das blinket, wie das blitzt,
wenn Roß und Reiter zu Pferde sitzt!"
6,34 Uhr: Der Diktator reitet noch
immer. Dabei erledigt er die eingelaufene
Post, macht sich Notizen über die heute
vorzunehmenden Verbannungen, entwirft
eine Reform der Hundesteuer, formuliert
den ^ext eines Begrüßungstelegramms an den Kongreß der bodenständigen
Zuchthausdirektoren, streicht im neuen Etat den Posten „Löschpapier"
mit der Begründung, daß die Hebung des einheimischen Streusandes
im Interepe der nationalen Selbstachtung und erhöhter Sparsamkeit
das Gebot der Stunde fei.

Kulturideal 1933

„Ja, Mensch, wie kommen S i e denn hierher?“ — „Ach wissense,
ich wollte ja eigentlich ins Kino gehen, aber es war (dies

ausverkauft!“

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Register
Erich Wilke: Kulturideal 1933
Krey: Ein Tag aus dem Leben eines Diktators
[nicht signierter Beitrag]: Illustrationen zum Text "Ein Tag aus dem Leben eines Diktators"
 
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