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Ständchen bei Ihnen bestellt hat!" schrie ihn
der Gatte an.

Die Frau lauerte klopfenden Herzens auf
die Antwort.

„Niemand hat es bei mir bestellt", erwiderte
der Zigeunerprimas. „Als aber neulich der
gnädige Herr Borz durch uns der schönen
Frau Karasz ein Ständchen darbringen ließ,
da beliebten Sie uns die Bezahlung schuldig zu
bleiben. Wir haben diesen kleinen Betrag seit-
her bereits fünfmal vergebens eingemahnt. Da
haben wir denn beschlossen, hier unter Ihrem
Fenster so lange zu spielen und Sie so lange
nicht schlafen zu lassen, bis wir unser Geld
bekommen."

Borz warf ihnen wütend eine Banknote hin.
Seine Gattin gewann nun plötzlich die Ober-
hand.

„So? Du hast also der schönen Frau Karasz
ein Ständchen veranstaltet?" fragte sie spitz.

„Schau, mein Kind", erklärte ihr der Gatte
verlegen, „ein Ständchen muß doch nicht un-
bedingt als LiebeSgeständnis gewertet werden;
es kann ja auch ein Zeichen von Ehrerbietung
sein, eine liebe Aufmerksamkeit, wie ein Kar-
tengruß aus einer fernen Gegend..."

Verrückter Tag

Von Wilhelm Lichtenberg

Herr Ottokar Dirmofer, Oberbuchhalter bei
Brenzlich & Co., tritt heute, wie alltäglich, um
dreißig nach sieben aus dein Tor seines Hauses.
Gr ist heute, wie täglich, herrlich ausgeschlafen.
Er begibt sich heute, wie täglich, zur Haltestelle
der Straßenbahnlinie 6, um sein Büro zu er-
reichen. Man kann nicht gerade sagen: sein
geliebtes Büro, aber immerhin eines, mit dem
ihn eine Lnlente cordiale verbindet, blnd das
ist schon sehr viel.

Er hat nur drei Schritte bis zur nächsten
Ecke. In seinem Leben stimmt alles. Alles
trifft gewissermaßen fahrplanuiäßig ein. Auch
die Zufälle, blnd so ereignet sich täglich der
sonderbare Zufall, daß er das Mädchen von
Henke, dritte Etage links, an der Straßenecke
mit der Milchkanne trifft. Er trifft sie natür-
lich wieder, blnd wartet auf den gewohnten
Blick aus Staunen und Genugtuung gemischt.

Das Mädchen kommt. Der Blick kommt.
Aber was ist das für ein Blick? Ein Zusam-
menzucken. Schreck in den Augen, die Arme
hochgeworfen. Was ereignet sich, wenn ein
Mädchen, daS eine Milchkanne trägt, die Arme
hochwirft? Man muß es nicht erst schildern.
Es ereignet sich, was sich ereignen muß. blnd
plötzlich rennt dieses Ncädchen, rennt, rennt,
rennt... blnd verschwindet im Hausflur.

Herr Ottokar Dirmofer hat frühmorgens
nicht Zeit, über die Mysterien dienender Geister
nachzudenken. Das Büro wartet. Er geht
weiter. Vor dein Papierladen steht natürlich
der Besitzer, der Herr Schmutzer. Die beiden
Herren begrüßen sich immer sehr freundlich.
Das gehört mit zum Morgenprogramm. Zu
dumm! Was ist mit diesem Herrn Schinutzer?
Er zuckt plötzlich zusanunen und läuft in seinen
Papierladen zurück. Verrückt! Man wird sich
&e|en Herrn Schmutzer...

Komisch! Die meisten Leute sehen ihn so
merkwürdig an! Was ist denn los? Seit gut
dreißig Jahren wohnt er in der Gegend und
es hat ihn noch nieinalö ein Mensch ange-
>ehen... Was haben denn die Leute?

Da fällt es ihm ein: Vielleicht etwas an
seiner Toilette? Aber feine Toilette ist sonst ...
Möglich i)t alles. Viel Zeit ist ja nicht mehr.
Aber so viel Zeit... Hinter einem HauStor
beguckt er sich. Von vorne, von hinten — so
gut es geht. Vielleicht hat ihm irgendein
Lausejunge... Nein, nichts. Es ist alles in
Ordnung. Wie gewöhnlich. WaS haben also
alle Leute? Warum ... ?

Drüben hält die Straßenbahn. Natürlich!
Seine, die angestammte, die um sieben blhr fünf-
unddreißig, ist zuin Teufel. Wenn inan seine
Zeit unter HauStoren versteht! Aber in fünf
Minuten kommt die nächste. Nicht feine zwar,
aber immerhin... Es warten schon wieder

sehr viele Leute. Frühverkehr, blnd er stellt
sich, schon ein bißchen unsicher geworden, hinter
die Schwarmlinie der Fahrgäste. Trotzdem wird
man auf ihn aufmerksam. Einer sieht ihn zu-
erst, stutzt, und tritt unwillkürlich beiseite. . .
Dann ein anderer... Ein dritter .. . Ein vier-
ter .. . Scheu drücken sie sich an Herrn Dir-
moser vorbei. Plötzlich steht er isoliert da.
Sind alle verrückt geworden? Was gibt's
denn? Zum Donnerwetter, was gibt's denn?!?

Da hält der Wagen. Wird scharf gebremst
lind kreischt auf. Es klingt als schrecke er vor
Herrn Dirmofer zurück. Blöder Wagen! Er
steigt auf. Aber niemand sonst. Die Leute stehen
wie festgeschraubt. Keiner rührt sich. Der
Schaffner blickt ratlos auf die Straße hinab.
Wartet. Aber eö rührt sich noch immer keiner.
Da gibt er das Signal, blnd der Wagen
schießt loS.

Dirmofer drängt sich in das Innere des

Rubey

In der Witzblatt-Redaktion

„Scherz beiseite f junger Mann, — ich kann wirklich nur Humoristisches brauchen!“

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Rubey: In der Witzblatt-Redaktion
Wilhelm Lichtenberg: Verrückter Tag
 
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