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38. JAHRGANG

END

1 9 3 3 NR. 19

DIE SACHVERSTÄNDIGE TYPISTIN

Von Wilhelm Lichtenberg

„Du schreibst deine Manuskripte noch immer
selbst?" fragte mich Freund Oskar mißbilli-
gend. „Mensch, du bist ein vorsintflutliches
Llngeheuer! Heutzutage nimmt man sich doch
eine Dypistin! Agendein junges, nettes Mädel.
Sie sitzt an der N^aschine und schreibt schneller
als du denken kannst! Du spazierst einfach im
Zimmer umher und diktierst, was dir gerade
einfällt! Bist nicht an den Schreibtisch gefesselt
und dein Kopf wird sofort wichtiger als deine
krampfigen Finger!"

Ich gehe gern mit der Zeit, blnd Freund
Oskar hatte unleugbar recht. Also gab ich für
den nächsten Sonntag eine Annonce in die Zei-
tung, daß eine junge, versierte Dame zu Schrift-
steller als Typisiin gesucht werde.

Die Zwischenstufen will ich übergehen! Wo-
zu erst schildern, welcher Massenansturm sich
auf meine stille Dichterklause ergoß? Genug,
daß ich endlich das Richtige zu finden glaubte!
Eine junge, reizende Dame, die sich mit den
blendendsten Zeugnissen aus den verschiedensten

Branchen auSweisen konnte. Sie schrieb in der
Minute mehr Worte als sie sprechen konnte,
und das ist immer das beste Zeugnis für eine
Typistln. Bei Dichtern hatte sie noch nie ge-
arbeitet; aber sie meinte sehr richtig: „In der
Dichterbranche kommen am wenigsten Fach-
auSdrücke vor, deshalb werde ich mich sehr
rasch einarbeiten. Zuletzt war ich in einem
LeinenhauS beschäftigt. Bis inan da weiß, was
Lilienleinen und Doppelwebe und Simson-
loeken sind, ist man auch schon wieder entlassen.
A der Dichterei ist das alles viel einfacher."

^)ch gab ihr recht und bestellte sie für den
nächsten Dag, damit wir gemeinsam meinen
neuen Roman anfingen.

Oskar hatte nicht zu viel versprochen! Die
Stimmung war bezaubernd! In irgendeiner
Ecke saß, fast unsichtbar, Fräulein Erna mit
empfangsbereiten Fingerspitzen; ich schritt sin-
nend durchs Zimmer und hatte das schone Be-
wußtsein, daß jedes meiner gehauchten Worte,
ganz ohne mein Zutun, auf dem weißen Papier

für immer fesigehalten würde. Es war, als
hielte ich Zwiesprache mit mir selbst, und alles
das, was ich dachte ging nicht mehr verloren,
sondern marschierte in endlosen Wortkolonnen
hinter dem Farbband der Schreibmaschine auf.

Ich begann also das erste Kapitel zu dik-
tieren: „An einem etwas trüben, wässerigen
Spätmärznachmittag eilte Hannelore bei an-
brechender Dunkelheit — so gegen sechs —"

Hier setzte plötzlich das Klappern aus. Fräu-
lein Erna, meine Typisiin, hob die Hände von
der Schreibmaschine und sah mich erstaunt an.
„Was haben Sie, Fräulein Erna?" frug ich
sie. „Warum schreiben Sie nicht weiter?"

„Verzeihen Sie, bitte! Aber Ihnen ist da
ein Irrtum unterlaufen!" meinte die Typistin
ernst. „Ich war nämlich acht Monate lang
Sekretärin in der Zentralanstalt für Meteoro-
logie. Im Spätmärz bricht die Dunkelheit erst
um 18 klhr 33 herein. Wenn Ihre Hannelore
also durchaus in der einbrechenden Dunkelheit
was unternehmen soll — was, weiß ich ja

Die Rattendroschke HeinrichKley

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Heinrich Kley: Die Rattendroschke
Wilhelm Lichtenberg: Die sachverständige Typistin
 
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