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J U G E

38. JAHRGANG

N

19 3 3

SCHWEIGEN IST TOD

Von Leo Korten

Richter Francis Murphy pflegte Var dein Schlafengehen, nachdem er
die Abendblätter gelesen hatte, nach Patiencen zu legen. Auch heute ging
er, wenn auch ein wenig zerstreut, dieser Beschäftigung nach; ganz gegen
seine Gewohnheit aber war eS, daß er von Zeit zu Zeit einen langsamen
Schluck Brandy zu sich nahm.

Draußen verebbte langsam der Straßenlärm; nur van ferne war das
Nattern der Hochbahn zu hören. Thomas, der Diener und einzige Haus-
genosse des unverheirateten Richters, klopfte noch einmal an und fragte,
ob dieser noch irgendwelche Wünsche habe. „Rein, danke, Sie können
schlafen gehen", fam die Antwort.

Aber Thomas zögerte. „Soll ich nicht vielleicht heute wach bleiben?"
fragte er.

„Wie konimen Sie auf einen solchen Einfall?"

„Run... Ich dachte nur ... Haben Sie heute in der Zeitung gelesen,
daß Fred Allenby aus der Irrenanstalt auSgebrochen ist?^

Der Richter nickte. Er erinnerte sich. Vor sieben Jahren hatte er Fred
Allenby zum Tode verurteilt, weil er eine Tänzerin ermordet hatte. Der
Gouverneur hatte damals eine neuerliche Untersuchung des Geistes-
zustandes des Verurteilten angeordnet. Die Folge war, daß das Todes-

urteil aufgehoben und Allenby in die Irrenanstalt von Atlanta gebracht
wurde.

„Sie sollten lieber etwas Brom nehmen und schlafen gehen, Thomas",
sagte der Richter und nahm einen Schluck Brandy zu sich. „Gute
Rächt!" Wenn er während seiner langen richterlichen Laufbahn alle
gegen ihn ausgestoßenen Drohungen der blnterwelt ernst genommen
hätte, wäre er wohl schon früher als Allenby in eine Rervenheilanstalt
eingeliefert worden oder er hätte in eine vom Nordpol nicht allzu weit
abgelegene Gegend fliehen müssen.

Plötzlich hörte er ein Geräusch. Jemand schien das Fenster vorsichtig
zu öffnen. Dann bewegte sich der Vorhang.

„Kommen Sie nur herein, Allenby!" sagte der Richter.

Der Eindringling ließ sich offenbar nicht zweimal bitten. Ein blasser,
in einen grauen Havelock gehüllter Mann sprang vom Fensterbrett und
hielt einen Revolver gegen die silbergraue Schläfe Francis Murphys
gerichtet. „Wenn Sie einen Laut von sich geben, sind Sie ein toter
Mann!" rief er.

Der Richter betrachtete kaltblütig seinen Gast.

„Sie scheinen gar nicht überrascht zu sein über meinen Besuch?"

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