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38. JAHRGANG

G E N D

1 9 3 3 NR. 3 1

Von Wolfgang Federau

3oo£inann hatte natürlich seine Gewohnhei-
ten. Jeder, der Tag für Tag zu gewissen
Verrichtungen gezwungen wird, zu immer
gleichbleibenden Verrichtungen, erledigt sie nach
einem bestimmten, unabänderlichen Rhythmus.
Die Art, wie wir uns unfern Schlips binden,
wie wir in den Mantel schlüpfen, die Schuhe
anziehen und alles andere tun, was sich jeden
Morgen wiederholt, ist charakteristisch für den
Einzelnen und bleibt für alle Zukunft dieselbe.

Zootzmann ging eS nicht
anders. Er hatte seine Ge-
wohnheiten und merkte von

vertrug es nicht, mit dem Gesicht in der Fahrt-
richtung zu sitzen. Aber anderseits konnte er
es nicht über sich bringen, auf einen Eckplatz
überhaupt zu verzichten.

Zootzmann tröstete sich mit der Vorstellung,
eS handle sich hier um einen einmaligen Zufall,
er würde morgen wieder wie immer dies Abteil
ganz für sich behalten. Immerhin ließ die leise
Verstimmung ihn nicht zum Vollgenuß seiner
Zeitung kommen. Immer wieder spähte er über

ihnen

nur dann

etwas,

wenn

er darin

gestört

wurde.



Wie

etwa an

diesem

schönen

, warmen

Früh-

lingSnachmittag. Froh, sei-
nen Dienst hinter sich zu
haben, die eben gekaufte
Zeitung in der Hand, klet-
terte er in daS erste Abteil
des dritten Wagens —
von der Lokomotive ab ge-
rechnet — deS DorortzugeS
vier Uhr zehn. Immer be-
nutzte er diesen Zug, immer
stieg er in dieses Abteil
zweiter Klasse — daS war
eine seiner Gewohnheiten.
Und dann setzte er sich in
die Fensterecke, den Rücken
zur Lokomotive, und ver-
tiefte sich während der
zwanzig Minuten Bahn-
fahrt behaglich in seine Zei-
tung. Ungestört, ja denn
dieser Zug war meist nur
mäßig besetzt und zumal
die zweite Klasse war ge-
wöhnlich fast völlig leer.

Diesmal jedoch — Zootz-
mann stellte eS mit peinli-
cher Überraschung fest —
sah er sich in seiner Erwar-
tung getäuscht. In seiner
Fensterecke saß bereits ein
anderer Fahrgast, dick und
herausfordernd saß er da
und betrachtete Zootzmann
mit hochmütiger Gering-
schätzung. Zootzmann mußte
mit dem gegenüberliegenden
Platz vorliebnehmen. DaS
ärgerte ihn heftig, denn er

Mißglückter Handel

, Nee, nee, guter Mann, diese Butter ist nicht mehr frischV

,Kunststück, wenn mir die Damens seit vier Wochen det Beste davon weg-
riechen!“

daS Papier auf sein Gegenüber, daS ihn offen-
bar nicht beachtete und über ihn hinwegsah, als
wäre er Luft, als wäre er nichts und weniger
als nichts.

Zootzmann ärgerte sich aus vielfachen Grün-
den. Über die Interesselosigkeit seines Gegen-
übers, über dessen Selbstsicherheit. Daß der
andere so aufregend gut rasiert war, daß er so
stark war und so gut angezogen — trotz des
erstaunlich niedrigen und beinahe altmodischen
Umlegekragens, den er
trug, als wollte er sagen:
Sieh mal — ich kann eS
mir leisten, so einen Kra-
gen zu tragen. Ich kann
eS mir leisten, aufzufallen
— und eS gibt nicht viele,
die derartiges von sich be-
haupten dürfen.

„Ein impertinenter
Mensch", dachte Zootz-
mann. „Er geht einem
direkt auf die Nerven."

Natürlich war dies
Urteil vorschnell und auch
ungerecht. Aber wer in sei-
nen Lebensgewohnheiten
durch einen Dritten gestört
wird, ist nicht sehr geneigt,
diesem Dritten gegenüber
Gerechtigkeit und Milde
walten zu lassen.

Als der Zug in den
Bahnhof des Vororts, in
dem Zootzmann wohnte,
einlief, sprang dieser auf.
Er pflegte schon beim Ein-
fahren die Abteiltür zu
öffnen lind abzuspringen,
ehe der Zug richtig hielt.
Dies war eine andere von
seinen vielen Gewohnhei-
ten. Er sprang nicht vom
fahrenden Zug, weil er es
so eilig hatte, er sprang
nur, weil eS ihm Spaß
machte, als erster die
Sperre zu passieren. Die-
ses Ziel erreicht zu haben,
gewährte ihm Tag aus
Tag ein eine erhebliche
Befriedigung, eine beson-
dere Freude, die ihn um so
mehr beglückte, als sich
kein Zweck, keine Absicht
dahinter verbarg. Denn

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Josef Sauer: Mißglückter Handel
Wolfgang Federau: Der Feind
 
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