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3 8, JAHRGANG

1 9 3 3 NR. 36

VERSAILLES

Rede in gebundener Form
von E. G. Kolbenheyer‘)

Schon liegt sie, wie vom Schleier einer Sage
Gedeckt, dem wachen Tagesaug entrückt,

Die notentbrannte Zeit, da laubgeschmückt
Des Volkes Mannheit aus den Städten schritt
Und unsrer Herzen kummerschwere Waage
Hoffend an ihnen stieg, sinkend mit ihnen litt,

Die uns das glühende Geleis entriß
ln ungeahnte Qual und Bitternis:

Wir — Schuldner nun für alle unsre Tage,

Sie — Todgetreue, die sich selber gabenf
Stürmenden Fußes auf zerwühltem Boden,
Schlaflosen Augs vor unbedeckten Toten,

Gefällt im Lauf, versiegt im nassen Graben.

Und jene andi'e Zeit? Auch sie verschaltet,

Ein böser Traum, in böse Nacht verborgen.

Da unser Blut, elend- und schmachermattet,

Nicht wußte, ob es sterben, leben werde,

Und mit erneuter Qual an jedem Morgen
Uns schlug die ßuchverwehrte Menschenerde. —
Wißt ihr es noch? Wir waren ausgejagt
Aus der Gemeinschaft, die die Art verkettet,

Leben und Menschentum war uns versagt,

Als seien wir der Abschaum aller Wesen,

Als könnte erst an unserm Tod genesen
Die Welt, dann erst von einer Pest errettet.

Zu lebensstark im Herrenkreis der Erde,

Dir, Volk der Mitte, wird das heil’ge Recht:
lm Schaffensdrang dein Dasein zu erweiten,

Den werkgerechten Führerweg zu schreiten —
Das jedem andern wachsenden Geschlecht
Frei bleibt, zur Not und steten Lebensfährde.

Auf deine Spuren hetzt der Neid die Meute,

Haß wächst dir nach, wo wehrend du gerungen,
Und Ränken liegt dein offner Sinn zur Beute,
Verleumdung, Lüge gießen ihrer Lungen
Gifthauch auf deine Ehre — doch du stehst
Von neuem stets, da dich die Welt verraten
Und dich gebeugt, auf, wie nach Wetterschwaden
Die grüne Saat sich hebt aus mattem Trauern,
Stehst, nimmst die Last auf dich und gehst
Durch Haß und Neid an deine neuen Taten. —
Das ist dein Los, war deiner Väter Los.

Die andern wären in den Tod gesunken,

Du, Volk der Mitte, hast die Not aetrunken
Und wurdest stets am bittren Kelche groß.

Das ahnten sie aus klugbereitem Lauernt
Sie, die den ganzen Erdenkreis verbanden,

Um dich zu binden. Du kannst überdauern!

Das wußten, fürchteten sie und sie wanden
Aus Haß und Beutegier den Pakt der Schanden.

Was da naturvergessen, sinnverlorent
lm Hohn gezeugt, aus irrer Lust geboren,

Wächst es nicht auf zu seiner eignen Schmach?

— Ein Volk, das gegen alle Welt bestandenf
Bis Hunger und Entkräftung es gezwungen,

Ein Volk, kein anderes hat so gerungen.

Bis ihm die kampfzermürbte Waffe brach,

Und solch ein Volk in seiner schwächsten Stunde:
Sein Körper eine große, offne Wunde,

Sein Seelenquell versiegt, und fteberwach

Sein Aug’ dem Ende einzig zugerichtet —

Mit feilen Friedensworten zu berücken
Und dann dies Volk, des letzter Schild zerbrach,
ln einen Lügenpakt, von tausend Tücken
Verklausuliert, verknebelt und verdichtet,

Zu einem Monstrum, das sich selbst vernichtet,

Feig zu entwürdigen, das ist Menschheitsschmach!

Sie nannten sich der Erde Hoher Ratf
Sie wußten ihre Mienen groß zu falten,

Und Friede nannten sie die Hassessaat,

Aus der noch täglich wuchern Hohngestalten.

Uns dachten sie das Schandmal aufzubrennen
lm Aberwitz der welken Spötterhirne —

Es wuchs die Zeit! — und heute, nicht zu trennen,
Brennt ihnen selbst das Schandmal auf der Stirne.

— Sie trugen übermenschliche Gewalt,

Den Fluch zu bannen, eine Welt zu schlichten
Und über Trümmern eine Hochgestalt
Der qualentbundnen Rasse zu errichten:

Und sie verzettelten die hohe Stunde.

Engstirn ge Furcht und Beutelüsternheit,

Das blieb die letzte Weisheit aus dem Munde,

Der Urteil sprach für das Geschlecht der Zeit.

Doch dies Geschlecht ist nicht die Kreatur
Der drei Gezeichneten, die Weltgeschichte
Zu lenken wähnten wider die Natur.

Drangsal und Wirrnis folgten ihrer Spur.

Der Hohe Rat verfällt dem Weltgerichte.

— Untastbar über ihm entwirkt ein Recht,

Das urgezeugt aus stillster Quelle quillt,

Vom Wachstum des Lebendigen erfüllt,

Dem Drang der Not sein eigenes Geschlecht:

Das neue Leben ewigkeitenthüllt!

Vor dessen Blick, unwissend, ungestillt,

Nur sehnsuchtsvoll der eignen Bahn verhangen,
Wird ein Papier zu Staub und Moder werden,

Das sich vermaß, das Herrenrecht der Erden
ln ein Gefäß der Rache einzufangen. —

Längst ist dies andere Gericht gesprochen:

In ungezählten Akten, tausend Redenf
Spiegelgefechten, hoffnungsloser Fehden
Ward alles, was den Schein des Friedens fand
An jenes Paktes schillerndem Gewand,

Verleugnet, umgedeutet und gebrochen.

Denn wo kein Sieg war, wo im Kraftversagen
Dem hungermatten Gegner sank die Hand,

Bleibt Würger und Gewürgter kampf geballt:

Die stets erneuten Kräfte überschlagen
Den Augenblick der Not, die Sieggebärden,

Neu müssen sie ertrotzt, erlistet werden,

Und keines Friedens nährende Gestalt
Entblüht der Qual. Blind, nackt bleibt die Gewalt.

— Gewalt und Tod war in Versailles gegeben.
Gewalt heißt Tod, Friede heißt Freiheit, Leben.

Wann aber starb ein Volk, des Glaubens stark
Und innrer Quelle voll, aewaltbezwungen?

Die Kette beugt, doch schnürt sie nicht ins Mark
lind ist uns nicht in Herz und Hirn gedrungen.

Sie wird verwittern. Unser Blut wird treiben
Durch Not und Mühsal, wird im Drang bestehn.
Wir werden Lug und Trug erblassen sehn.

Heut Sieger sie. Doch wer wird Sieger bleiben?

“) Gehalten am zehnten Jahrestag des Versailler Diktates (1929),

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Erwin Guido Kolbenheyer: Versailles
 
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