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J U G E

38. JAHRGANG

Dreizehn!

Wieder nichts. Sie atmete schwer und zog
die letzte Banknote aus ihrem Geldtäschchen
hervor.

Ihr Gegenüber am Roulettetisch hörte nicht
auf, sie aufs genaueste zu beobachten. In
seiner Rechten hielt er mit nervösem Griff eine
Zigarette, während seine Linke in der Seiten-
tasche seines Sakkoanzuges vergraben war.
Sein linker Arm schien sonderbar steif — viel-
leicht war er gebrochen, vielleicht verkrüppelt.

Die Spielerin, der dieser Mann seine un-
geteilte Aufmerksamkeit zuwandte, gehörte
einem Typus an, den man in Monte Carlo
nicht allzuoft antrifft: eine hübsche, schlanke
Frau anfangs der Dreißigerjahre, der man eö
irgendwie ansah, daß sie verheiratet sei, Kinder
habe und daß ihr Leben in geordneten, ruhigen
Bahnen dahinfließe.

Neun! Der Croupier strich unerbittlich ihre
letzte Note ein. Ihre Nasenflügel zuckten, die
Zähne bissen die Llnterlippe und graue Augen
blickten zornig in die Welt. Die leidenschaftliche
Spielerin in ihr kam unverkennbar zum Vor-
schein.

Mit zitternden Fingern öffnete sie ihre Hand-
tasche, die sie mit fieberhaftem Eifer durch-
suchte. Nicht die kleinste Note war mehr zu
finden. Einen Augenblick lang saß sie starr da.
Dann fuhr sie langsam mit der Hand über ihr
weißes Gesicht. Als es wieder sichtbar ward,
schien es noch weißer und völlig ausdruckslos
geworden zu sein. Sie sprang auf und warf
sich den Mantel um. Die Leute sahen ihr nach,
als sie davoneilte.

Kaum eine Minute nach ihrem Abgang
verließ auch der Mann, der noch immer seine
Linke in der Tasche hielt, das Kasino und
rannte eilig die Stufen hinunter. Etwa hundert
Meter vor ihm schritt eine schlanke Gestalt
durch die blaue Dämmerung. Er folgte ihr.

Sie ging mit kurzen, schnellen Schritten,
aber unentschlossen, einher. Zuerst schien eö,
als eilte sie schnurstracks dem Hotel Beau
Soleil zu; dann änderte sie ihre Richtung. Sie
ließ die Stadt hinter sich liegen und schlug den
Weg zur Cradausina-Schlucht ein. Sie sah
weder nach rechts noch nach links und, als
sie die Brücke erreicht hatte, befand sich der
Mann nur mehr fünfzig Schritte hinter ihr.

In der Mitte der Brücke hielt sie inne. Ihr
Verfolger, der sich ihr allmählich ganz dicht
genähert hatte, sah, wie sie ihre Lippen be-
wegte, als ob sie ein Gebet murmelte. Dann
kramte sie in ihrer Handtasche. Jetzt fand es
der Mann an der Zeit, mit der Rechten ihre

Von C. Patrick Thompson

Schulter zu berühren. Sie zuckte zusammen
und wandte ihm ein wachsbleiches, erschrecktes
Antlitz zu.

„Beruhigen Sie sich, gnädige Frau!" sagte
er höflich. „Wir wollen sehen, ob wir in Ihrer
Angelegenheit nichts unternehmen können. Sie
sind vollkommen ruiniert, nicht wahr?"

Ein langes Schweigen folgte, bevor sie sich
aufraffte, Bejahung zu nicken.

„Sogar die letzte Banknote — für die
Heimreise — haben Sie am Spieltisch ver-
loren?"

Neuerliches Nicken.

In seine verhärmten Augen kam ein leises
Lächeln. „Ich habe Sie Tag für Tag in den
Spielsälen beobachtet. Haben Sie schon früher
gespielt?"

„Oft und oft", stammelte sie. „Wer sind
Sie?"

„Sie können nicht los", bemerkte der Fremde,
die ihm gestellte Frage überhörend. „Ja, ich
sehe es Ihrem Gesicht an. Vererbung, nicht
wahr?"

Sie senkte den Blick. „Mein Vater war ein
leidenschaftlicher Spieler, bind auch mein Groß-
vater."

VENUSLIED

Von Julius Maria Becker

Venusschwestern, Magdalenen,
euer Sold zerrinnt zu Tränen,
euer Schuh muß sich verfangen,
euer Stern ist untergangen.

Puderdose wird zerscherben,
roter Mund sich jach verfärben;
und ihr fühlt an Häuserecken
euer welkes Herz erschrecken.

Kommt noch einer spät gegangen,
spürt ihr Schmach und müßt erbangen,
nehmt sein Scherflein nur mit Zagen.
Schon wills über Häusern tagen.

Schon ist unwert und verfallen
euer Lustversprechen allen.

Duckt euch in die Häusernischen!

Euer Glanz ist lang verblichen.

Oben, hinter offenen Scheiben,
rührt sich schon ein neues Treiben;
eine Mutter sorgt schon wieder,
stillt ihr Kind und summt ihm Lieder.

Und in Häusern und in Gaden
singen Mütter voll der Gnaden.
Venusschwestern, Magdalenen,
wie zerstob doch euer Wähnen!

N D

1 9 3 3 / NR. 38

„bind Ihr Gatte? Denn ich nehme an, daß
Sie verheiratet sind?"

„Mein Mann weiß von nichts. Er ist in
London Theaterdirektor und Regisseur. Er ist
oft auf Reisen. Gerade jetzt ist er in Amerika —
auf einer Geschäftsreise."

„Wie kam das alles?" Sie starrte ihn an,
ohne eine Antwort zu geben; denn seine Stimme
klang bei weitem nicht mehr so höflich wie
früher. „Antworten Sie!" befahl er. „Ver-
stehen Sie nicht, daß ich Ihnen helfen will?"

„Als ich noch unverheiratet war", sagte sie
leise, „kam ich alljährlich mit meinem Vater
nach Monte Carlo. Ich sah ihm beim Spielen
zu. Ich selbst spielte nie. Er erlaubte es mir
nicht, bind ich wollte immer so gerne spielen.
Dann, als ich heiratete, konnte ich, wenn mein
Mann auf Reisen war, unschwer auf kurze
Zeit von zu Hause abkommen. Ich gab vor,
daß ich Verwandte in Frankreich besuche. Zu-
erst war alles nur Spaß. Dann nicht mehr.
Ich verlor viel Geld und kam immer wieder,
um meine Verluste einzubringen. Ich konnte
nicht mehr loskommen, bind dabei eine Pech-
serie nach der andern. Kein System half mir.
Heute habe ich zuviel verloren. Ich kann nicht
mehr nach Hause fahren."

„Hören Sie!" sagte der Mann, indem er
mit einem langen, dünnen Finger an ihren
Arm tippte. „Ich möchte Ihnen eine Geschichte
erzählen. Sie betrifft ebenfalls eine Frau, eine
italienische Gräfin, die den Spieltrieb im Blute
hatte — gleich Ihnen. Sie hatte ein ungeheures
Vermögen durchgebracht. Aber sie konnte vom
Spiel nicht loskommen. Sie hatte einen Sohn
mit ausgesprochen puritanischen LebenSanschau-
ungen und — er war erst achtzehn Jahre alt
— mit einem unbeugsamen Willen. Angewidert
beobachtete er, wie seine Mutter immer tiefer
herunterkam und er schwor, sie von ihrer Spiel-
leidenschaft zu kurieren. Eines Abends, nach-
dem sie drei Nächte lang fast ununterbrochen
gespielt hatte, ergriff er sie beim Arm und
flehte sie an, doch endlich mit dem verdammten
Spiel Schluß zu machen. Sie lachte ihn aus,
da sie gerade eine Kleinigkeit gewonnen hatte.
Da bat er sie, um ihrer Liebe willen, wenig-
stens diesen einen Abend zu Hause zu bleiben,
sonst würde er sich die Hand abbrennen. Sie
müssen wissen: er war aus jenem Stoff, aus
dem die Märtyrer gemacht werden."

„Sie wußte zwar, daß ihrem Sohn über-
triebene Ehrbegriffe innewohnten. Aber es lag
ihr fern, ihn diesmal ernst zu nehmen. Sie
schalt ihn verrückt und exaltiert. Sie ging auS,
hatte eine Glücksserie und spielte bis zum Ka-

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C. Patrick Thompson: Die Hand
Julius Maria Becker: Venuslied
 
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