Fortsetzung von Seite 611
Erst in den ersten Tagen des Mai erschien
Heinz einmal nicht um 7.24. Erich wartete
eine Respektsminute — dann glaubte er seinen
großen Tag gekommen. Zuerst mußte er ja
seine angeborene Schüchternheit überwinden,
aber dann legte er loS: „Fräulein Niddy! Tag
für Tag freue ich mich auf unser Zusammen-
treffen auf der Station Wedding! Tag für
Tag ereignet sich dasselbe! Eine Minute lang
sind Sie nett, lieb, freundlich zu mir. Eine
Minute lang darf ich mir einbilden, daß Sie
ein bißchen Interesse für mich haben. Wenn
aber Heinz erscheint, ist das alles im Augen-
blick vorbei! Sie fallen plötzlich von mir ab
und dann lebt nur mehr dieser Heinz für Sie!
Warum? Ich frage Sie warum, Fräulein
Niddy? Ich bin nicht weniger'als er, ich meine
eü genau so ehrlich mit Ihnen, und was die
äußeren Vorzüge betrifft — glaube ich es mit
Heinz noch aufnehmen zu können."
Niddy fischte während seiner Rede ein Stück-
chen Schokolade aus einem Automaten und
antwortete, indem sie das Papier loslöste: „Sie
wollen wissen, warum ich mich zu Heinz mehr
als zu Ihnen hingezogen fühle?"
„Ja!" stieß er mit äußerster Energie hervor.
„Weil er mir imponiert. Deshalb." Sie
steckte ihr Stückchen Schokolade in den Mund
und ließ es wonnig auf der Zunge zergehen.
Erich starrte sie einen Augenblick lang an.
Dann meinte er verständnislos: „Er imponiert
Ihnen...? Verzeihen Sie, das ist es ja eben,
ivaS ich nicht begreife. Warum imponiert er
Ihnen? bind warum imponiere ich Ihnen nicht?
Was imponiert überhaupt einer Frau?"
Ohne zu überlegen antwortete sie: „Einer
Frau imponiert nichts so sehr wie persönlicher
Mut, Waghalsigkeit und Verwegenheit. DaS
Plötzliche, das Unvorhergesehene. Eine Frau
will fasziniert, will überrumpelt sein — das
imponiert ihr!"
Die Fortsetzung dieses Gespräches war un-
möglich geworden, denn Heinz tauchte plötzlich,
mit einer Verspätung von drei Minuten, auf.
Er hatte nur einfach ein bißchen verschlafen,
sonst war eS nichts gewesen. Es ereignete sich
natürlich, was sich jeden Morgen ereignete.
Erich war, nachdem Heinz Niddy begrüßt hatte,
für sie nicht mehr auf der Welt.
Trotzdem wußte Erich endlich, was einer
Frau imponiert. Persönlicher Mut? Wag-
halsigkeit und Verwegenheit? Gott, bei einiger
Überwindung konnte man das gegebenenfalls
auch noch fertig bringen. Niddy war zwar
deutlich gewesen, aber einen Schimmer von
Hoffnung hatte er doch.
Daö Glück schien an diesem Morgen aus
Erichs Seite zu sein. Es ereignete sich nämlich
auf der Fahrt zwischen Wedding und Zoo
folgendes: Plötzlich trat Kurzschluß ein. Der
Zug blieb, in völlige Finsternis gehüllt, auf
der Strecke stehen. Die Situation war so:
Niddy saß in der Mitte, rechts saß Erich, links
Heinz. Erich atmete einmal tief und dann war
er entschlossen, das Mutige, daö Waghalsige,
das Überrumpelnde zu tun, das Niddy von
dem Mann, der ihr imponieren sollte, verlangte.
Er warf sich plötzlich über sie (wohlgemerkt,
der Wagen war stockdunkel) und küßte sie wie
wahnsinnig ab.
Niddy stieß einen durchdringenden Schrei
aus. Was weiter geschehen würde, wußte Erich
nicht. Überrumpelt hatte er sie jedenfalls.
Gleich daraus flammte daö Licht wieder auf
und der Zug setzte sich in Bewegung. Alle
Augen waren selbstverständlich aus Niddy und
ihre beiden Kavaliere gerichtet. Es war natür-
lich allen Fahrgästen klar, daß Niddy geschrien
hatte, weil sie geküßt worden war. Nur, wer
sie geküßt hatte, daS wußte keiner der Fahr-
gäste. ünd das wußte auch Niddy nicht. Es
konnte ebensogut Heinz wie Erich gewesen
sein... Allerdings neigte sie mehr zu der be-
rechtigten Ansicht, daß eS Heinz gewesen sei.
Eine Auseinandersetzung über dieses Rechts
und Links war im überfüllten Abteil der üuter-
grundbahn nicht möglich. Die Leute glotzten
ohnehin so merkwürdig und schmunzelten viel-
verschweigend. Glücklicherweise war schon die
nächste Station Zoo. Niddy drängte schnell
durch eine wohlwollend feixende Menge (öffent-
lich geküßte Mädchen erobern sich immer das
allgemeine Wohlwollen), gefolgt von Erich und
Heinz.
Sonst gaben sich die Drei vor der Station
Zoo rasch die Hand und eilten an ihre Arbeits-
plätze. Diesmal blieb Niddy stehen und fragte
streng: „Wer war es? Wer war dieser ganz
unverschämte Mensch, der mich geküßt hat?
Ich erwarte, daß ihr den Mut habt, es ein-
zugestehen, obwohl ich den, der cs war, im
Leben nicht mehr anschaue!"
Noch bevor Erich daS Geständnis ablegen
konnte, sagte Heinz: „Wenn Sie es also wissen
wollen, Niddy, i ch war es! Ich habe einfach
die Beherrschung verloren, ich wußte nicht mehr,
was ich tue — ich habe Sie geküßt! Auf die
Gefahr hin, daß Sie mich nie mehr anschauen!"
Erich war über die Frechheit Heinzens >0
entsetzt, daß er nicht sofort sprechen konnte.
Dann aber schob er Heinz beiseite. „Lügen
Sie nicht!" schrie er ihm ins Gesicht. „Mit
welchem Recht schmücken Sie sich mit fremden
Küssen?"
„Ich wollte Sic nur aus der Patsche ziehen!"
sagte Heinz lächelnd.
„Sie brauchen mich nicht aus der Patsche
zu ziehen! WaS ich getan habe, vertrete ich
auch!" ünd zu Niddy gewandt, schrie er, seine
Stimme überschlug sich dabei: „Ich habe eS
gewagt! Ich habe Sie geküßt! Ich und kein
anderer! ünd wenn Sie jemand nicht mehr
anfchauen wollen, dann bin ich es! Ich, ganz
allein!"
Niddy stand einen Augenblick ganz gerührt
da, dann nahm sie zärtlich Heinzens Arm. Sie
wandten sich zum Gehen und Erich starrte ihnen
nach, als ob sich die üntergrundstation selbst
in Bewegung gesetzt hätte.
„Niddy!" stammelte er. „Ich imponiere
Ihnen und mit Heinz gehen Sie Arm in Arm
davon?"
Niddy wandte sich lächelnd zurück und sagte
mit einer Stimme, die zwischen Rührung und
Bewunderung gerade die Mitte hielt: „Lieber
Freund, geben Sie sich gar keine Mühe! Jetzt
iveiß ich endlich, daß ich zu Heinz gehöre. Denn
nichts imponiert einer Frau mehr, als wenn
ein Mann dem andern hilfreich beispringt, auf
die Gefahr hin, alles bei dieser Frau zu ver-
lieren."
Heinz und Niddy gingen sehr glücklich davon.
ünd Erich? Er hat eS aufgegeben, heraus-
zubekommen, waS einer Frau imponiert. Ganz
genau feststellen läßt eS sich ja doch nicht.
Höllisches Idyll
Ein Mensch kommt in ein kleines Nest
Mit manchem schön historischen Rest
Und riechend schier nach alten Meistern:
Ein solches Nest wird ihn begeistern.
Wie würd' es meine Nerven schonen
So denkt er, könnte ich hier wohnen!
Im Geiste scheint er schon zu haben
Ein stilles Haus am alten Graben
Hier würd', mit einer Zipfelmützen
Er eifrig seine Zeit benützen
Und, wie Dean Paul einst, sich Geschichten
Von beispielloser Länge dichten.
Dedoch, er fährt zu seinem Glück
Noch abends in die Stadt zurück.
Es bleibt bei seinem schönen Traum
Vom Gärtchen mit dem Blütenbaum
Vom altehrwürdigen, trauten Städtchen
Mit Mondnacht-Flieder-Zauber-Mädchen.
Ein Mensch, der dorten wohnen muß
Mit dem ist es bald ernsthaft Schluß.
Ein solcher Mensch ergibt sich wohl
Der Politik, dem Alkohol
Wird noch Vereinsvorstand zur Not
Und wartet ruhig auf seinen Tod,
Wobei er ängstlich darauf paßt.
Daß man ihn weder liebt noch haßt
Denn nur ein Mensch, der brav und still,
Erträgt dies höllische Ddyll.
Eugen Roth
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Erst in den ersten Tagen des Mai erschien
Heinz einmal nicht um 7.24. Erich wartete
eine Respektsminute — dann glaubte er seinen
großen Tag gekommen. Zuerst mußte er ja
seine angeborene Schüchternheit überwinden,
aber dann legte er loS: „Fräulein Niddy! Tag
für Tag freue ich mich auf unser Zusammen-
treffen auf der Station Wedding! Tag für
Tag ereignet sich dasselbe! Eine Minute lang
sind Sie nett, lieb, freundlich zu mir. Eine
Minute lang darf ich mir einbilden, daß Sie
ein bißchen Interesse für mich haben. Wenn
aber Heinz erscheint, ist das alles im Augen-
blick vorbei! Sie fallen plötzlich von mir ab
und dann lebt nur mehr dieser Heinz für Sie!
Warum? Ich frage Sie warum, Fräulein
Niddy? Ich bin nicht weniger'als er, ich meine
eü genau so ehrlich mit Ihnen, und was die
äußeren Vorzüge betrifft — glaube ich es mit
Heinz noch aufnehmen zu können."
Niddy fischte während seiner Rede ein Stück-
chen Schokolade aus einem Automaten und
antwortete, indem sie das Papier loslöste: „Sie
wollen wissen, warum ich mich zu Heinz mehr
als zu Ihnen hingezogen fühle?"
„Ja!" stieß er mit äußerster Energie hervor.
„Weil er mir imponiert. Deshalb." Sie
steckte ihr Stückchen Schokolade in den Mund
und ließ es wonnig auf der Zunge zergehen.
Erich starrte sie einen Augenblick lang an.
Dann meinte er verständnislos: „Er imponiert
Ihnen...? Verzeihen Sie, das ist es ja eben,
ivaS ich nicht begreife. Warum imponiert er
Ihnen? bind warum imponiere ich Ihnen nicht?
Was imponiert überhaupt einer Frau?"
Ohne zu überlegen antwortete sie: „Einer
Frau imponiert nichts so sehr wie persönlicher
Mut, Waghalsigkeit und Verwegenheit. DaS
Plötzliche, das Unvorhergesehene. Eine Frau
will fasziniert, will überrumpelt sein — das
imponiert ihr!"
Die Fortsetzung dieses Gespräches war un-
möglich geworden, denn Heinz tauchte plötzlich,
mit einer Verspätung von drei Minuten, auf.
Er hatte nur einfach ein bißchen verschlafen,
sonst war eS nichts gewesen. Es ereignete sich
natürlich, was sich jeden Morgen ereignete.
Erich war, nachdem Heinz Niddy begrüßt hatte,
für sie nicht mehr auf der Welt.
Trotzdem wußte Erich endlich, was einer
Frau imponiert. Persönlicher Mut? Wag-
halsigkeit und Verwegenheit? Gott, bei einiger
Überwindung konnte man das gegebenenfalls
auch noch fertig bringen. Niddy war zwar
deutlich gewesen, aber einen Schimmer von
Hoffnung hatte er doch.
Daö Glück schien an diesem Morgen aus
Erichs Seite zu sein. Es ereignete sich nämlich
auf der Fahrt zwischen Wedding und Zoo
folgendes: Plötzlich trat Kurzschluß ein. Der
Zug blieb, in völlige Finsternis gehüllt, auf
der Strecke stehen. Die Situation war so:
Niddy saß in der Mitte, rechts saß Erich, links
Heinz. Erich atmete einmal tief und dann war
er entschlossen, das Mutige, daö Waghalsige,
das Überrumpelnde zu tun, das Niddy von
dem Mann, der ihr imponieren sollte, verlangte.
Er warf sich plötzlich über sie (wohlgemerkt,
der Wagen war stockdunkel) und küßte sie wie
wahnsinnig ab.
Niddy stieß einen durchdringenden Schrei
aus. Was weiter geschehen würde, wußte Erich
nicht. Überrumpelt hatte er sie jedenfalls.
Gleich daraus flammte daö Licht wieder auf
und der Zug setzte sich in Bewegung. Alle
Augen waren selbstverständlich aus Niddy und
ihre beiden Kavaliere gerichtet. Es war natür-
lich allen Fahrgästen klar, daß Niddy geschrien
hatte, weil sie geküßt worden war. Nur, wer
sie geküßt hatte, daS wußte keiner der Fahr-
gäste. ünd das wußte auch Niddy nicht. Es
konnte ebensogut Heinz wie Erich gewesen
sein... Allerdings neigte sie mehr zu der be-
rechtigten Ansicht, daß eS Heinz gewesen sei.
Eine Auseinandersetzung über dieses Rechts
und Links war im überfüllten Abteil der üuter-
grundbahn nicht möglich. Die Leute glotzten
ohnehin so merkwürdig und schmunzelten viel-
verschweigend. Glücklicherweise war schon die
nächste Station Zoo. Niddy drängte schnell
durch eine wohlwollend feixende Menge (öffent-
lich geküßte Mädchen erobern sich immer das
allgemeine Wohlwollen), gefolgt von Erich und
Heinz.
Sonst gaben sich die Drei vor der Station
Zoo rasch die Hand und eilten an ihre Arbeits-
plätze. Diesmal blieb Niddy stehen und fragte
streng: „Wer war es? Wer war dieser ganz
unverschämte Mensch, der mich geküßt hat?
Ich erwarte, daß ihr den Mut habt, es ein-
zugestehen, obwohl ich den, der cs war, im
Leben nicht mehr anschaue!"
Noch bevor Erich daS Geständnis ablegen
konnte, sagte Heinz: „Wenn Sie es also wissen
wollen, Niddy, i ch war es! Ich habe einfach
die Beherrschung verloren, ich wußte nicht mehr,
was ich tue — ich habe Sie geküßt! Auf die
Gefahr hin, daß Sie mich nie mehr anschauen!"
Erich war über die Frechheit Heinzens >0
entsetzt, daß er nicht sofort sprechen konnte.
Dann aber schob er Heinz beiseite. „Lügen
Sie nicht!" schrie er ihm ins Gesicht. „Mit
welchem Recht schmücken Sie sich mit fremden
Küssen?"
„Ich wollte Sic nur aus der Patsche ziehen!"
sagte Heinz lächelnd.
„Sie brauchen mich nicht aus der Patsche
zu ziehen! WaS ich getan habe, vertrete ich
auch!" ünd zu Niddy gewandt, schrie er, seine
Stimme überschlug sich dabei: „Ich habe eS
gewagt! Ich habe Sie geküßt! Ich und kein
anderer! ünd wenn Sie jemand nicht mehr
anfchauen wollen, dann bin ich es! Ich, ganz
allein!"
Niddy stand einen Augenblick ganz gerührt
da, dann nahm sie zärtlich Heinzens Arm. Sie
wandten sich zum Gehen und Erich starrte ihnen
nach, als ob sich die üntergrundstation selbst
in Bewegung gesetzt hätte.
„Niddy!" stammelte er. „Ich imponiere
Ihnen und mit Heinz gehen Sie Arm in Arm
davon?"
Niddy wandte sich lächelnd zurück und sagte
mit einer Stimme, die zwischen Rührung und
Bewunderung gerade die Mitte hielt: „Lieber
Freund, geben Sie sich gar keine Mühe! Jetzt
iveiß ich endlich, daß ich zu Heinz gehöre. Denn
nichts imponiert einer Frau mehr, als wenn
ein Mann dem andern hilfreich beispringt, auf
die Gefahr hin, alles bei dieser Frau zu ver-
lieren."
Heinz und Niddy gingen sehr glücklich davon.
ünd Erich? Er hat eS aufgegeben, heraus-
zubekommen, waS einer Frau imponiert. Ganz
genau feststellen läßt eS sich ja doch nicht.
Höllisches Idyll
Ein Mensch kommt in ein kleines Nest
Mit manchem schön historischen Rest
Und riechend schier nach alten Meistern:
Ein solches Nest wird ihn begeistern.
Wie würd' es meine Nerven schonen
So denkt er, könnte ich hier wohnen!
Im Geiste scheint er schon zu haben
Ein stilles Haus am alten Graben
Hier würd', mit einer Zipfelmützen
Er eifrig seine Zeit benützen
Und, wie Dean Paul einst, sich Geschichten
Von beispielloser Länge dichten.
Dedoch, er fährt zu seinem Glück
Noch abends in die Stadt zurück.
Es bleibt bei seinem schönen Traum
Vom Gärtchen mit dem Blütenbaum
Vom altehrwürdigen, trauten Städtchen
Mit Mondnacht-Flieder-Zauber-Mädchen.
Ein Mensch, der dorten wohnen muß
Mit dem ist es bald ernsthaft Schluß.
Ein solcher Mensch ergibt sich wohl
Der Politik, dem Alkohol
Wird noch Vereinsvorstand zur Not
Und wartet ruhig auf seinen Tod,
Wobei er ängstlich darauf paßt.
Daß man ihn weder liebt noch haßt
Denn nur ein Mensch, der brav und still,
Erträgt dies höllische Ddyll.
Eugen Roth
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