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38. J A H R G A N G

G E N D

1 9 3 3 / NR. IJTi**

KOiV WELTKONTROLLE

Ein Mensch, der recht sich überlegt,

Daß Gott ihn anschaut, unentwegt
Fühlt mit der Zeit in Herz und Magen
Ein ausgesprochnes Unbehagen
Und bittet schließlich ihn voll Grauen
Nur fünf Minuten wegzuschauen,

Er wolle unbewacht, allein
Inzwischen brav und artig sein
Doch Gott, davon nicht überzeugt
Ihn ewig unbeirrt beäugt.

Eugen Roth

DIE BRAUT DES ERSTEN OFFIZIERS

„Wenn ein Mensch auf einem Baum ge-
boren ist, und derselbe Mensch stirbt wiederum
auf einem Baum, dann kann man daraus
schon folgern, daß eS ein Affe gewesen ist", —
sagte unser Smutje; dann sah er sich trium-
phierend um und wartete, was wir nun dazu
zu bemerken hätten. Wir — alle Mann von
der Freiwache — standen vorn an der Back;
unser gutes Schiff schlich die Elbe hinauf,
schon war Glürkstadt vorbei, wir hatten acht
Wochen See hinter uns, und gegen Abend
wollten wir in St. Pauli sein, „blnd
darum — —", fuhr der Koch fort, und
zwirbelte die paar rötlichen Haare seines
Schnurrbartes zu zwei traurigen Gedanken-
strichen, — „darum sage ich, daß eine tiefe
Bedeutung dahintersteckt, wenn jemand im
Wartesaal geboren wird und auch im Warte-
saal sein Ende nimmt —".

Man muß wohl wissen, wir waren sehr un-
geduldig, wir standen vorn an der Back, wo
wir sonst nie waren, aber nun war uns, als
wären wir hier schon näher an zu Hause. DaS
Schiff lief knapp halbe Fahrt.

„Tscha, das was du von dem Affen sagst,
hat seine Richtigkeit", sagte mein Freund Klaus,
— „aber was kann denn schon für eine Be-
deutung dahinterstecken, wenn eine Dame im
Wartesaal geboren wird und später im Warte-
saal stirbt? Wenn du uns beibringst, daß da
was Geheimnisvolles dahintersteckt, dann be-
kommst du von mir zehn mexikanische Dollars,
die ich sowieso noch liegen habe, weil mir die
keiner abnehmen will." Die Augen deS Kochs
begannen zu glänzen: wir alle kannten seinen
Geiz; er schluckte ein paarmal, dann sagte er-
gänz ernsthaft und würdevoll: „Nun gut,

JungenS, ich werde die Sache rauskriegen; ihr
müßt mir aber die Vorgeschichte genau er-
zählen."

DaS war ein billiges Verlangen, und so er-
zählte KlauS ihm die Geschichte, so wie er sie

VO N JENS C. NIELSEN

vom Ersten Offizier selbst erfahren hatte, zwei
Jahre vorher, unten bei Kap Horn, als sie
im Boot beim Wasserholen abgetrieben waren
und zwei Wochen allein im Ozean paddelten.
Der Erste Offizier hatte beim Landurlaub eine
Dame kennengelernt, sich mit ihr verlobt, und
als er von der nächsten Reise zurückkam, er-
fahren, daß sie inzwischen verstorben war, und
zwar, so erfuhr er, im Wartesaal erster und
zweiter Klasse des Hauptbahnhofes zu Frank-
furt am Main. Das Merkwürdige an der
Geschichte aber war, — und das ging eine
Zeitlang dem Ersten nicht aus dem Kopf, —
daß seine verstorbene Braut ihm einst erzählt
hatte, daß sie auch im Wartesaal geboren war;
kurz bevor sie erwartet wurde, habe ihre
Ntutter eine Reise unternehmen müssen, und
durch irgendeinen plötzlichen Schreck veranlaßt,
sei sie zu früh auf die Welt gekommen.

„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und
Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen
läßt", — zitierte der Koch und sein komisches
kleines Gesicht wurde von einem Schimmer
von geheimnisvoller Würde überzogen: „Es

geschieht nichts Sinnloses auf dieser Welt. Ge-
burt und Tod haben tiefe Bedeutung im Leben
der Menschen. Es gibt Geheimnisse, sage ich
euch-"

„Ja, ja — —", sagten wir, ohne hinzu-
hören, und er verschwand.

Es war auch höchste Zeit, denn Blankenese
tauchte auf und uns allen wurde ganz komisch
zumute. Der Zweite Offizier tippte zweimal
kurz am Dampf, er hatte drüben eine Braut,
Lisa hieß sie und war die Tochter eines Segel-
flickcrs; er hatte eü ihr geschrieben, auS New
Orleans auf einer Ansichtskarte, daß er zwei-
mal kurz tippen würde, wenn wir vorbei kämen
in Blankenese-.

Aber der Smutje — so sehr er sich be-
mühte — hat die zehn mexikanischen Silber-

dollars nie verdient; aber als ich einmal —
viel später — im Freundeskreis die Geschichte
von der Braut des Ersten Offiziers erzählte,
die im Wartesaal geboren und gestorben war,
und die Frage aufwarf, ob diese Übereinstim-
mung von GeburtS- und Todesstätte wohl Ein-
fluß auf den Charakter des Menschen habe, da
sing der Reporter B. an zu lachen, bis ihm
die Tränen kamen; er berichtete schließlich, daß
er die Affäre kenne, er habe selbst einmal
darüber berichtet; der einzige Einfluß der Ge-
burtsstätte und Todesstätte sei in diesem Falle,
daß die Dame, eine international berühmte
Schwindlerin, sich ausgerechnet auf D-Züge
spezialisiert habe. — — „bind da sucht ihr
eine tiefere mystische Beziehung!" — prustete er.

Da erhob ich mich, ich wußte eigentlich nicht,
warum. Hätte ich in diesem Augenblick ge-
wußt, wo der Smutje zu erwischen gewesen
wäre, vielleicht wäre ich damals sofort zu ihm
hingefahren; es war ja eigentlich lächerlich,
und ich kehrte auch gleich darauf zur Gesell-
schaft zurück und lachte kräftig mit, — aber
ich will nicht verhehlen, daß es mir einen Augen-
blick lang kalt über den Rücken gelaufen ist,
als ich von dem Beruf dieser Frau hörte und
wo sie ihn ausübte. Eine Vision tauchte in
mir auf vom schrecklichen tödlichen Zwang
eines unaufhörlichen Tak-tak tak-tak-tak, von
der Besessenheit eines quälenden Gefühls, ge-
hetzt zu sein, auf erbarmungslos harten, stoßen-
den Rädern, — und dann, dann in dem
Augenblick zu sterben, und im Wartesaal zu
sterben, da dieser Mensch versucht, dem Zwang
der Räder rmd der Ruhelosigkeit zu entgehen
und sich an eine Heimat und an einen Men-
schen zu binden-.

Aber, wie gesagt, dann lachte auch ich, und
besonders, als ich an das Beispiel von dem
Affen dachte, daS der Smutje damals auf der
Back vor Blankenese gebraucht hatte.

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Eugen Roth: Von der Weltkontrolle
Jens C. Nielsen: Die Braut des Ersten Offiziers
 
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