Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
19 3 3

/

J U

3 8. JAHRGANG

D

N R. 48

Meistere dich!

Von Hans Friedrich Blunck

Nimm deine Hand und hör den Blutschlag klingen,
Der sie durchpulst, betrachte still die Rillen
Der Finger, wie sie sich gestalten, schwingen.

Und horch noch tiefer auf den untern Willen,

Der in dir treibt. Dann krümme sanft die Hand
Und während du sie sacht zum Herzen wendest,
Nach deinem Aufruf, spürst du wohl die Ströme,
Die du, du selbst, in deinen Blutschlag sendest.
Und spürst das Rieseln deiner Kraft, die heilend
Das ewig gleiche dumpfe Leben steuert
Und dir gehorchen läßt, — spürst in dir selber
Und ahnst die Kraft des Meisters, stark, befeuert.

Als die Wildgänse im Spätherbst überS
Dach zogen, da lag Hannelore in der Wiege
unterm niederen Stubendach, als hätten die
fremden Vögel es gebracht. Aber wie die Wan-
derer in Geschwaden nach Norden ruderten,
hörte die arme Frau die hellen Vogelstimmen
nicht mehr.

Hannelore war mutterlos, und da der
Vater ein lockerer Zeisig, Herumtreiber und
Schürzenjäger war, bekam die Magd den
Auftrag, das Kind in das städtische Waisen-
haus zu bringen. —

Als Veronika Ansorge, die Magd, das
Kleine nach der Stadt brachte, da empfand
sie eine starke, mütterliche Zärtlichkeit zu dem
loinzigen Geschöpf, das sie mit fremden blauen
Augen ansah. Sie hatte ein Zucken in den
Armen verspürt, als die kleinen Händchen nach
ihr griffen, und sie, die das Waislein als Ver-
mächtnis der toten Frau herzlich liebte,
küßte eS wie eine rechte Mutter auf die
Backen, drückte eS fest an sich und reichte eS
dann det Schwester. „Da, nehmt eS, liebe
Schwester, und haltet eS gut."

Dann richtete sie das bunte Kopftuch, ging
den hallenden Flur hinab in den Garten, durch
den Hof und durch das Tor auf die Gasje
hinaus, in das Dorf zurück. — — — —

Das kinderlose Ehepaar rackerte sich von
früh bis spät und brachte eS zu bescheidenem
Wohlstand. Der Mann war Straßenbahn-
schaffner, die Frau eine flinke, tüchtige Nähe-
rin und so erzwangen sie zu zweit nach und
nach ein sorgloses Dasein. Mit dem Ende der
Sorgen kamen auch die toten Strecken in dem
Zusammenleben. Mann und Frau empfanden
eö schwer, daß ihre Ehe kinderlos geblieben.

Das Dasein war ohne Ziel und Zweck, die
Wohnung so leer, so öde. Immer tiefer ver-
ankerten sich die Gedanken der Frau in einem
kleinen Wesen, das ihrem einsamen Dasein
Freude und Licht geben sollte. Wenn sie mit
Bekannten und Nachbarinnen sprach, gab sie

annelore

VON ALBERT LEITICH

sich keine Mühe mehr, ihre kinderlose Ehe an-
zuklagen und ihre Sehnsucht zu offenbaren.
Gute Freunde rieten, das Ehepaar möge ins
städtische Waisenhaus gehen, dort würden
Kinder gerne an gute Pflegeeltern abgegeben.
An einem dienstfreien Tag zog der Mann
seinen Sonntagsstaat an, auch die Frau putzte
sich heraus, und dann gingen beide zur Leitung
des Waisenhauses, um sich ein Mädelchen
heimzuholen. Nachdem sie dem Direktor der

Das Paar Nückel

Anstalt ihren Wunsch bekanntgegeben hatten,
führte sie dieser in ein großes, helles Sprech-
zimmer und hieß sie warten. Aus einmal ging
die Tür aus und ein Dutzend braune, blonde
und schwarze Köpfchen tauchten aus. Zage
Stimmchen wisperten und blaue, graue und
dunkle Augen sahen schüchtern nach dem Ehe-
paar, das steif und fremd da stand und mit
wahrem Heißhunger nach dem vielen zappeln-
den Leben sah. Kinder, um die sich niemand
kümmerte, die die Menschen als Last empfan-
den. Es waren allerliebste, putzige Dinger
darunter und schon trafen die Augen der Frau
Auswahl. Aber der Mann hatte schon längst
seine Wahl getroffen; ganz rückwärts stand
ein kleines,' schüchternes, etwas verkümmertes
Dingelchen mit traurigen, großen, blauen
Augen, die hatten ihm ans Herz gegriffen.

Hannelore Aigner, das arme verlassene Ge-
schöpf, dessen Geburt das Leben der Mutter
gefordert hatte.

Diese Leidensgeschichte traf auch Eva Hofer
ins Herz. Ja, das war das Kind, das liebeS-
hungrige, dem sie ihre lange zurückgestaute
große Mutterliebe schenken konnte. Sie strich
über die mageren, braunen Zöpschen und Mar-
tin Hofer sah dies mit einem Blick voll tief-
ster Dankbarkeit. Herrgott, was für ein
Juwel war doch seine Frau. —

Nun sollte Sonne ins Haus kommen.

Eine riesengroße, unbändige Freude durch-
flutete den starken Mann. Aber da kamen
Martin Hofer neuerlich Bedenken. Er bat,
mit dem Leiter nochmals allein sprechen zu
können. Als dieser ihn in die Kanzlei führte,
meinte er, daß er das Dingelchen doch nicht
übernehmen könne; es sei ein Vater da und
wenn das Kind ihnen ans Herz gewachsen
wäre, dann tauchte vielleicht der wieder auf
und pochte auf seine Rechte. Der Direktor be-
ruhigte den Mann. DaS Kind sei dem Vater
abgenommen worden und dieser hätte heute
keinerlei Anspruch auf daS Kind. Noch immer

754
Register
Otto Nückel: Das Paar
Hans Friedrich Blunck: Meistere dich!
Albert Leitich: Hannelore
 
Annotationen