östliches Stadttor JulieHahn
DER SCHREI VOW AMRITSAR
VON WILLY SEIDEL
Der ergraute Journalist zog eine vergilbte
Notiz aus der „Times" hervor. „Lesen Sie",
sagte er kurz.
Ich las folgendes: . . . „Es war General
D y e r , der im April 1919 den Befehl gab,
auf 5000 Inder, die sich im Jallianwallah-
Bagh zu Amritsar zusammengerottet hatten,
scharf zu schießen. — 3Ö0 wurden getötet und
1200 verwundet. — Der General wurde diszi-
pliniert; er mußte seinen Abschied nehmen."
Fragend sah ich den Zeitungsmann an.
Er klopfte die Pfeife aus und seine Augen
wurden wie aus Zinn. „Wir haben in den letz-
ten Tagen öfters von ,Vorschau' gesprochen",
meinte er. „Ich habe jetzt grade eine gute Ge-
legenheit, Ihnen ein verblüffendes Beispiel da-
für zu erzählen, welch' enge Grenzen mensch-
licher Regie gesetzt sind. Alles, was geschehen
wird, ist ja schon vorhanden im Zeiten-
schoß; manchmal, auf unheimliche Weise, wird
uns zu Gemüte geführt, daß unsre eigenen Er-
lebnisse in dieser Zukunftsgalerie schon hängen
wie in einer Bilderreihe, die wir abschreiten. —
Vor dem Kriege, es muß um 1912 gewesen
sein, erholte ich mich hier in Altjoch von einer
längeren Krankheit. Eines Sommertages machte
ich einen Spaziergang über die steile Alte
Kesselbergstraße nach Walchensee, trank dort
starken Kaffee und kam zurück. Ich spürte
Herzklopfen, fühlte mich reichlich matt und legte
mich sogleich nieder. Ich schlief ein und batte
einen jener Träume, deren Intensität und
Erlebnisfülle die Wirklichkeit überbietet.
Ich ging eine staubige Straße hinunter.
Über mir flammte ein glühend weißer Him-
mel. Zu beiden Seiten erstreckten sich Reihen
bunter Gebäude. Teils waren sie einstöckig,
flach, init Arkaden unter gestreiften Sonnen-
segeln; teils höher, rosa und himmelblau ge-
tüncht, mit einem Gewirr von Ornamenten,
Türmchen und Erkern. Was mir besonders
auffiel, waren windhudsen-ähnliche Dachaufsätze
mit Ventilierschirmen, deren Gewimmel der
Stadt etwas Phantastisches gab. Zuweilen
mischten sich Tempelfronten darunter mit mar-
mornem durchbrochenem Zierwerk oder fratzen-
haftem Stuck. Ich hörte zunächst keinen Laut
und hatte das beklemmende Gefühl, lauernde
Augen seien rings in den Häusern wach und
auf mich gerichtet.
Dann vermeinte ich daS Echo vereinzelter
Schüsse in Seitenstraßen zu hören.
Keinen Augenblick grübelte ich darüber nach,
wie ich an diesen Ort geraten sei. Nun trat
ich durch einen dunklen Torweg in den Irmen-
hof eines großen guadratischen Gebäudes.
Irgendwelches Treibgut des ünterbewußtseinS
veranlaßte mich zunächst zu glauben, ich sei in
der Turnhalle meiner Universität und meine
weißgekleideten Kollegen trieben Training nach
Kommando; beugten und streckten sich.
Dann aber kam mir ein Rest von Logik und
ich sagte mir: ich bin ja in Indien und folg-
lich unmöglich in der Heimat. Dies müssen
Mohammedaner beim Gebets-RituS sein. Ich
war gerade damit halb beruhigt, als das Bild
vor mir sich auf einmal fragwürdig veränderte
und ich erkannte, daß all diese Leute nicht aus
freien Stücken auf- und niederwogten, sondern
sich in einer Art rhythmischer Krämpfe,
— wie vergiftet, — am Boden wanden. Gleich-
zeitig kam mir das Bewußtsein von einem uni-
versalen, vibrierenden, gräßlichen Schrei, d.r
nicht enden wollte. — Mit dem Gefühl großer
Atemnot fuhr ich empor; immer noch diesen
Schrei im Ohr. —
Fünf Jahre später führte mich mein Berus
wirklich nach Indien. — Als Pressevertreter
hatte ich an allen den Orten zugegen zu sein,
wo damals zwischen Hindus und Mohamme-
danern Fehden aufloderten. So geriet ich auch
nach Amritsar. — Europäer waren am Bahn-
hof kaum zu sehn. Ich orientierte mich aus
meinem Handbuch über den Weg zum Briti-
schen Regierungsgebäude, das ich zunächst auf-
zusuchen gedachte.
Zuerst ging es durch schnatternde Volks-
mengen. Plötzlich kam ich in eine seltsam stillt
Straße. Mit gezücktem Kodak, scharf um mich
spähend, ging ich dahin, doch war eS nicht ge-
heuer in dieser Gegend, denn eingeborene Poli-
zisten schrieen mir unverständliche und dringliche
Warnungen zu. Aber ein weißer Reporter hat
seinen Ehrgeiz; zudem imponierten mir diese
indischen Lokal-Wirren noch wenig. War eS
doch undenkbar, daß so etwas wie die Zeit der
„Mutiny" wiederkam . . .
Ich hielt mich in der Mitte dieser Bazar-
straße. Es war schauderhaft heiß. Auf ein-
770
DER SCHREI VOW AMRITSAR
VON WILLY SEIDEL
Der ergraute Journalist zog eine vergilbte
Notiz aus der „Times" hervor. „Lesen Sie",
sagte er kurz.
Ich las folgendes: . . . „Es war General
D y e r , der im April 1919 den Befehl gab,
auf 5000 Inder, die sich im Jallianwallah-
Bagh zu Amritsar zusammengerottet hatten,
scharf zu schießen. — 3Ö0 wurden getötet und
1200 verwundet. — Der General wurde diszi-
pliniert; er mußte seinen Abschied nehmen."
Fragend sah ich den Zeitungsmann an.
Er klopfte die Pfeife aus und seine Augen
wurden wie aus Zinn. „Wir haben in den letz-
ten Tagen öfters von ,Vorschau' gesprochen",
meinte er. „Ich habe jetzt grade eine gute Ge-
legenheit, Ihnen ein verblüffendes Beispiel da-
für zu erzählen, welch' enge Grenzen mensch-
licher Regie gesetzt sind. Alles, was geschehen
wird, ist ja schon vorhanden im Zeiten-
schoß; manchmal, auf unheimliche Weise, wird
uns zu Gemüte geführt, daß unsre eigenen Er-
lebnisse in dieser Zukunftsgalerie schon hängen
wie in einer Bilderreihe, die wir abschreiten. —
Vor dem Kriege, es muß um 1912 gewesen
sein, erholte ich mich hier in Altjoch von einer
längeren Krankheit. Eines Sommertages machte
ich einen Spaziergang über die steile Alte
Kesselbergstraße nach Walchensee, trank dort
starken Kaffee und kam zurück. Ich spürte
Herzklopfen, fühlte mich reichlich matt und legte
mich sogleich nieder. Ich schlief ein und batte
einen jener Träume, deren Intensität und
Erlebnisfülle die Wirklichkeit überbietet.
Ich ging eine staubige Straße hinunter.
Über mir flammte ein glühend weißer Him-
mel. Zu beiden Seiten erstreckten sich Reihen
bunter Gebäude. Teils waren sie einstöckig,
flach, init Arkaden unter gestreiften Sonnen-
segeln; teils höher, rosa und himmelblau ge-
tüncht, mit einem Gewirr von Ornamenten,
Türmchen und Erkern. Was mir besonders
auffiel, waren windhudsen-ähnliche Dachaufsätze
mit Ventilierschirmen, deren Gewimmel der
Stadt etwas Phantastisches gab. Zuweilen
mischten sich Tempelfronten darunter mit mar-
mornem durchbrochenem Zierwerk oder fratzen-
haftem Stuck. Ich hörte zunächst keinen Laut
und hatte das beklemmende Gefühl, lauernde
Augen seien rings in den Häusern wach und
auf mich gerichtet.
Dann vermeinte ich daS Echo vereinzelter
Schüsse in Seitenstraßen zu hören.
Keinen Augenblick grübelte ich darüber nach,
wie ich an diesen Ort geraten sei. Nun trat
ich durch einen dunklen Torweg in den Irmen-
hof eines großen guadratischen Gebäudes.
Irgendwelches Treibgut des ünterbewußtseinS
veranlaßte mich zunächst zu glauben, ich sei in
der Turnhalle meiner Universität und meine
weißgekleideten Kollegen trieben Training nach
Kommando; beugten und streckten sich.
Dann aber kam mir ein Rest von Logik und
ich sagte mir: ich bin ja in Indien und folg-
lich unmöglich in der Heimat. Dies müssen
Mohammedaner beim Gebets-RituS sein. Ich
war gerade damit halb beruhigt, als das Bild
vor mir sich auf einmal fragwürdig veränderte
und ich erkannte, daß all diese Leute nicht aus
freien Stücken auf- und niederwogten, sondern
sich in einer Art rhythmischer Krämpfe,
— wie vergiftet, — am Boden wanden. Gleich-
zeitig kam mir das Bewußtsein von einem uni-
versalen, vibrierenden, gräßlichen Schrei, d.r
nicht enden wollte. — Mit dem Gefühl großer
Atemnot fuhr ich empor; immer noch diesen
Schrei im Ohr. —
Fünf Jahre später führte mich mein Berus
wirklich nach Indien. — Als Pressevertreter
hatte ich an allen den Orten zugegen zu sein,
wo damals zwischen Hindus und Mohamme-
danern Fehden aufloderten. So geriet ich auch
nach Amritsar. — Europäer waren am Bahn-
hof kaum zu sehn. Ich orientierte mich aus
meinem Handbuch über den Weg zum Briti-
schen Regierungsgebäude, das ich zunächst auf-
zusuchen gedachte.
Zuerst ging es durch schnatternde Volks-
mengen. Plötzlich kam ich in eine seltsam stillt
Straße. Mit gezücktem Kodak, scharf um mich
spähend, ging ich dahin, doch war eS nicht ge-
heuer in dieser Gegend, denn eingeborene Poli-
zisten schrieen mir unverständliche und dringliche
Warnungen zu. Aber ein weißer Reporter hat
seinen Ehrgeiz; zudem imponierten mir diese
indischen Lokal-Wirren noch wenig. War eS
doch undenkbar, daß so etwas wie die Zeit der
„Mutiny" wiederkam . . .
Ich hielt mich in der Mitte dieser Bazar-
straße. Es war schauderhaft heiß. Auf ein-
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