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DIE CHRISTBAUMKERZEN

(AUCH EINE WEIH NACH TS GESCHICHTE VON N. DYMION)

Herr unb Frau Sedlhuber lebten sehr zu-
rückgezogen in einer süddeutschen Großstadt.
Ihre Verhältnisse waren bescheiden aber
durchaus achtbar, und wenn sie in den letzten
Jahren mehrfach zu einem Wohnungswechsel
gezwungen waren, so war dies wie bei vielen
Zeitgenossen, darin begründet, daß ein schwin-
dendes Vermögen sie zu Einschränkungen
zwang. Beim Flaschenbierhändler und beim
Obstler genoß Frau Sedlhuber finanziellen

Kredit biö zu Markbeträgen, der auf der
anderen Seite durch einen soliden moralischen
Kredit, dessen sich das Ehepaar bei Haus-
bewohnern und Nachbarn erfreute, harmonisch
ergänzt wurde. SedlhuberS trieben mit dem
allseits gewährten Vertrauen jedenfalls nie
Mißbrauch: sie waren zurückhaltend aber

freundlich, sparsam, aber sichere Zahler.

Auch mit der Ehe dieser sympathischen Leu e
ging alles in bester Ordnung. Sie waren ein-

ander herzlich zugetan, und nur eines kannten
beide nicht: die häusliche Poesie der großen
kalendarischen Feste. Ostern, Pfingsten und
Weihnachten waren ihnen Tage im Jahr —
ohne Glanz und Schimmer. Beide waren sehr
streng und einfach erzogen worden. Frau Sedl-
huber brachte aus dem Elternhaus wenig
Sentimentalität in ihre Ehe mit, und sie besaß
nicht die Gabe ihrem Mann, der früh schon
von jeinen Eltern getrennt worden war, wenig-
stens einmal im Jahr das ewige
KindheitSglück des WeihnachtS-
festeS erleben zu lassen. Wie unser
Ehepaar dann doch einmal ver-
anlaßt wurde, ein Weihnachtsfest
vorzubereiten und wie diese Vor-
bereitungen dann leider nicht zum
besten Ende führten, das will ich
jetzt erzählen.

Drei Wochen vor dem Fest der
Feste kaufte Frau Sedlhuber für
drei Pfennig Suppengrün ein. Eine
kleine, spitze Karotte spießte sich
durch das schmutzige Einwickel-
papier und zwang die Hausfrau,
ihren Blick auf das Wort „Weih-
nachten" zu lenken. Das Wort
stand inmitten einer Geschichte, die
Frau Sedlhuber gewohnheits-
gemäß beim Kochen las. Die
Zeitung hieß „Über Gebirg und
Tal" (Familienblatt mit Blitz-
schadenversicherung), daS vergi.bte
Blatt war aus dem Jahre 1697
und die Geschichte war just die-
selbe, wie wir sie drei Wochen vor
Weihnachten in jedem Familien-
blatt zu lesen verdammt sind. AuS
tanzenden Schneeflöcklein, aus
silbernem Kinderlachen und an
Fensterscheiben plattgedrückten
Nasen, auS Filzschuhen samt
darin befindlichen Großmütterchen,
auS Kachelöfchen, Bratäpfelchen,
Kuchendüftelchen und auS den
Interjektionen „Hu" und „Brrr"
(zur Kennzeichnung waltender
Kälte) und „Ah" und „Oh"
(Lautmalerei der Überraschung
unterm Weihnachtsbaum) war da
etwas zusammengemischt, daS
Frau Sedlhuber dennoch innig
rührte und ihr den Blick in eine
fremdartige Zauberwelt erschloß.
Am Abend laö sie die Geschichte,
die leider mitten in einem Schlüssel-
loch fragmentarisch endete, ihrem
Mann vor. Herr Sedlhuber war
nicht minder innig gerührt und er
beschloß etwas zu tun, was er
durch geheimnisvolles Augen-
zwinkern ankündigte.

Zwei Tage darauf brachte
Herr Sedlhuber mit frisch ge-
röteten Wangen und blitzenden
Augen 14 stattliche Tannenbäume

Der Puppendoktor O. Nückel

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Otto Nückel: Der Puppendoktor
N. Dymion: Die Christbaumkerzen
 
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