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3 9. JAHRGANG

1 9 3 4 / N R. 6

oberbayerischen Station hielt einmal
der Drient-Lxpreß

Von Rudolf Moosleitner

In einer kleinen

Man schrieb das Jahr 1907. Das Leben
floß ruhig und behaglich dahin. Der Frieden
wurde nach selten durch ein Telephon gestört
und auch die Autobusse erreichten noch nicht
die entlegensten Bauerndörfer. Damals hatte
noch jedes Dorf seinen Boten, oder wenn das
Dorf recht klein war, feine Botin. Tagtäglich
mußten die Boten und Botinnen ans den ver-
schiedenen Dörfern in die nächste Stadt, oder-
besser gesagt in das nächste Städtchen fahren,
entweder mit eigeneiti Fuhrwerk, mit einem
Handwägelchen, oder wenn es gilt ging, mit
der Eisenbahn, um dort die notwendigen Ein-
käufe, Bestelliingen und sonstigen Besorgungen
zu erledigen.

Als Botinnen fungierten in den kleinen
Ortschaften meistens alte Weiblein, die
schwere Arbeiten nicht mehr leisten konnten
und demnach von der Gemeinde hätten erhal-
ten werden müssen. So verdienten sich die
Botinnen wenigstens recht und schlecht ihren
Unterhalt. Freilich mehr schlecht als recht,
denn einen festen Tarif für die getätigten Be-
sorgungen hatte wohl keine. Was man den
Botinnen gerne gab, gab man ihnen eben.
Und das wird schon nicht zuviel gewesen sein.

Auch das oberbayerische Dorf Laching
batte so ein altes Weiblein als Botin. Jahre-
lang schon. Vielleicht schon jahrzehntelang.
Ihr Leiterwägelchen hatte die alte Botin
meistens mit einem Strick an ihren Körper
gehängt, um auch noch Pakete und Schachteln
in den Händen tragen zu können. Aber immer-
hin hatte sie die Annehmlichkeit, in das nächste
Städtchen, nach Krauting, mit der Eisenbahn
fahren zu können.

bind dort in Krauting kannte natürlich
jeder Mensch, ja jedes Kind die alte Bötin
ans Laching. Die Kinder trieben oft allerhand
Schabernack mit der etwas sonderbaren Alten,
während die Erwachsenen auch gerade keinen
großen Respekt vor ihr zeigten, aber immer-
hin mehr Gutmütigkeit und Rachsicht im Ver-
kehr mit ihr unterhielten. Bekannt wie ein

falsches Fünferl war nun die Bötin auch im
Bahnhof von Krauting. Pflegte sie doch tag-
täglich, mit Ausnahme der Sonn- und Feier-
tage, mit dem Zug um halb neun Uhr früh
anzukommen lind um vier Uhr nachmittags
wieder in das zwei Stationen entfernte
Laching zu fahren.

Wie sehr die alte Bötin mit der Station
von Kratiting und somit mit der Königlich
Bayerischen Staatseisenbahn verwachsen war,
zeigte schon das eine, daß jeder diensthabende
Stationsbeamte, bevor er den Zug abfahren
ließ, gewissenhaft den Bahnsteigschaffner fragte,
ob die Nanni, tind damit meinte er die
alte Bötin, schon eingestiegen sei. Sie war
also gewissermaßen bereits in die Dienstvor-
schrift mit einbezogen. Passierte es dann wirk-
lich einmal, daß sich die Nanni um einige
Minuten verspätete, so hatte eben der Ver-
ladegehilfe um diese Zeit länger mit dem Ver-
laden zu gebrauchen.

Die Nanni kam aber immer noch zurecht.
Mit vereinten Kräften halfen dann der Fahr-
dienstbeamte tind der Verladegehilfe das
Wägelchen der Bötin auf die Plattform des
Zuges zu verstauen. Und lustig und hurtig
setzte sich daS Lokalzügle in Bewegung. Auf
einige Minuten ging es ja damals wirklich
nicht zusammen.

*

Und nun zum 27. Mai 1907, dem ereig-
nisreichen Tag der Station Krauting. klm
halb vier Uhr nachmittag war, wie jeden
zweiten Tag üblich, das Geleise für den durch-
fahrenden Orientexpreß freigegeben. Diese
Prozedur hatte immer in der kleinen Station
eine fieberhafte Erregung auSgelöst. So auch
an diesem Tage. Man konnte ja nie wissen,
welch hohe Herren sich im Orientexpreß be-
finden mochten, die eine Behinderung des
Zuges sofort an höchster Stelle gemeldet haben
würden.

Schon eine Viertelstunde vor Fälligkeit deS
ZngeS ging der Bahnhofvorstand selbst den

Bahnhof ab, besichtigte nochmals die Wcichen-
blockierungen und wartete dann in höchst
eigener Person die Durchfahrt des Zuges ab.

Endlich brauste der Orientexpreß heran.
Der Bahnhofvorstand legte schon, eS war der
Zug noch einige hundert Meter weit entfernt,
die Hand an den Mützenschild, uni bei dein
rasenden Tempo des Zuges ja init seiner
Ehrenbezeigung nicht zu spät zu kommen.

Doch, was war das? — Die Maschine
des Zuges hatte die Nähe des Bahnhofvor-
standeS noch gar nicht erreicht, da ging plötz-
lich ein Knirschen und Knarren durch den gan-
zen Zug. Und die Bremsen saugten sich an die
Räder, daß diese auf den Schienen schleiften
und Funken sprühten. Dann stand der Orient-
expreß pustend und stampfend in der kleinen
Station. Zischend lösten sich wieder die Luft-
druckbremsen.

Der Bahnhofvorstand vergaß seine Hand
vom Mützenschild zu nehmen. Er sah den Zug
lind sah ihn doch nicht. Blasierte Menschen
sahen bereits auf ihn, da er so mutterseelen-
allein vor diesen! Ungetüm stand, mit dein er
nichts anzufangen wußte, weil im Dienst-
regleinent darüber nichts verzeichnet war. Nur
das eine ging ihm blitzschnell durch den Kopf:
Die verflixte Schreibarbeit, die dieser Aufent-
halt nach sich zieht. — Erst als jich eine
Wagentüre öffnete lind der noble Zugführer
ihm heranwinkte, lief er dienstbeflisten über
die Geleise.

Mittlerlveile war auch das gesainte Bahn-
hofpersonal zusammengelaufen. Die paar Be-
amten in den Büros und auch die Arbeiter
von der Güterhalle. — Ein Orientexpreß hielt
schließlich nicht alle Tage in Krauting. —

Aber waS mochte es wichtiges geben? —*
Da — da, hob gerade das Zugspersonal c.ne
anscheinend ohnmächtige Frau auS dem Zug.
Ein Herr stieg mit aus. Handkoffer folgten
auch nach. —

Der Bahnhofvorstand lief um eine Trag-
bahre. Irgendwo in einem Büro mußte doch

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Rudolf Moosleitner: In einer kleinen oberbayerischen Station hielt einmal der Orient-Expreß
Josef Sauer: Illustrationen zum Text "In einer kleinen oberbayerischen Station hielt einmal der
 
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