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3 9. JAHRGANG

END

1934 / N R. 8

JA HRESKALENDER

Von Arnold Weiß=Rüthel

Die Sonne steigt,

der Regen fällt —

auf Tag folgt Nacht,

auf Nacht folgt Tag,...

der Mensch hat seiner Uhren Schlag

auf diesen Wandel eingestellt.

Der Frühling kommt,

der Winter geht,

die Frucht wird Brot,

der Halm wird Spreu,...

der Bauer folgt dem Wandel treu:

der Sämann sät —

der Schnitter mäht.

Die Blume blüht —
und sie verdirbt;
der Frost zerstört,
die Erde nährt,...
was kommt — das geht,
was geht — das kehrt
zurück und wird,
indem es stirbt.

DAS GLÄSERNE ATTENTAT

VON WOLFGANG KÖHLER

Als Gouverneur des Bezirkes Terw und ein
vom Zaren Begünstigter befand sich Michael
Araktschejew im Besitz ausgedehnter Ländereien,
deren jede er mit einem Schloßbau versah.
Denn da er es sich in den Kopf gesetzt hatte,
seiner Stellung im Reiche zum Trotz alt zu
werden, älter als alle feine Vorgänger — es
war dies fein Steckenpferd — so verbot er
sich das längere Verweilen an einem Ort wie
überhaupt jede Gewohnheit, um nicht den An-
schlägen auf sein Leben Vorschub zu leisten.
Dazu studierte er sorgfältig die Methode vor-
kommender und vorgekommener Attentate und
machte sich init den verschiedenen Systemen der
Höllenmaschinen wohl vertraut; und auch um
die Organisation jener Geheimbünde, die dann
beim Tode des Zaren die unglücklichen De-
zembermänner stellten, wußte er einigen Be-
scheid.

So war eS diesem auch körperlich gewaltigen
Manne fünf Jahre hindurch gelungen, allen
Versuchen, ihn so oder so zu beseitigen, mit
einer Gewandtheit zu entwischen, die zu seinem
Äußeren in keinem Verhältnis stand. Aus den
ersten Anblick erschien er, der von herkulischer
Stärke war, eher plump und feist, und seinen
behenden Verstand verbarg der massige Körper
aufs beste. So kam eS, daß ihn die Höflinge
ebenso achteten wie seine Bauern, jene, weil er
ihnen hinter ihre Schliche kam, und diese, weil
er ihnen durch seine Kraft, mit der er etwa
ein Fuhrwerk aus dein Graben stemmte, Furcht
einflößte.

Run glitt er im Dreigespann flink durch die

Winternacht zu seinem Samonowschen Gute.
Der Schnee ächzte unter den Kufen, und die
Lust war so klqr und kalt, daß die Pferde
den Atem in sichtbaren Wölkchen aus den
Nüstern stießen. Der Himmel aber wölbte
sich als eine Schale von funkelnder Pracht
über die weiße Fläche, die sich nach allen
Richtungen hin zum Horizont erstreckte, bis sie
sich allmählich zu senken und von Sträuchern,
Markierungen, dann Holzschuppen durchsetzt
zu werden begann. Er näherte sich seinem
Dorfe.

Von einer leisen Unruhe abgesehen — fuhr
er doch immerhin in die Höhle des Bären, um
ihn zu erlegen — war Araktschejews Laune
heute so gut wie seine Verdauung. Wenn
gewisse Leute wüßten, dachte er, daß ich, zur
Nachtzeit und allein, ganz allein, diese einsame
Strecke gefahren bin. Aber sie vermuten mich
noch im Kreml, die gewissen Leute, oder im
Palais Eswolski. — Und pfeifend bog er durch
daS stattliche Tor, daS den Gutshof gegen die
Straße abschloß.

Der erste Knecht, der ihm, eine Fackel in
der Hand, entgegenkam, es war Nikitin der
Säufer, nahm ihm die Zügel ab und half ihm
vom Sitz. Man war an seine überraschenden
Besuche gewöhnt? Wo ist Dmitrj? fragte
Araktschejew. Im Turm, brummte der Alte
und runzelte die Brauen, daß man seine winzi-
gen Äuglein nicht mehr sah.

Dmitri, der Verwalter, befand sich in dem
an die hintere Hofecke angebauten Turin, der,
mit einem Lichtschein aus dem Dachfenster,

mächtig in die Finsternis ragte. Dmitri war
der Sohn eines jüdischen Arztes und hatte, wie
sein Herr, ein Steckenpferd von allerdings ganz
anderer Art. Er beschäftigte sich mit der Optik.
Am Tage schliff er Linsen und baute sich In-
strumente, mit denen er nachts gespenstische
Bilder an die Wand warf. Dabei hatte er die
Angewohnheit, mit sich in seiner Muttersprache
laut zu reden — kein Wunder, daß ihn das
Gesinde als einen Zauberer fürchtete, was
wieder die Wirkung hatte, daß die Leute selbst
dann arbeiteten, wenn er nicht dabei stand. Er
pflegte von seinem Turmzimmer aus durch ein
Teleskop die Felder zu überblicken, und man
glaubte sein schrecklich bewaffnetes Auge immer
auf sich gerichtet. Mittels Spiegelvorrichtungen
blickte er selbst in die Winkel des Hofes ohne
daß man ihn sah.

Eben in den Bau eines MikroskopeS ver-
tieft, hörte er nicht wie der Gouverneur ein-
trat. Der schlug ihm nun nach seiner Gewohn-
heit derb aus die Schulter, daß die allenthalben
herumstehenden Gläser klirrten und die Lichter
tanzten. Eigentlich hatte ihm Araktschejew noch
nie getraut, aber er hatte ihn als den besten
Landwirt unter seinen Verwaltern geschätzt.

Der Getroffene fuhr herum, Araktschejew
glaubte ein kleines Aufleuchten hinter seiner
scharfen Brille zu bemerken. Ihr seid eS, Herr,
rief er, welche Freude, bind dann begann er
sogleich von einem Diehhandel zu erzählen,
den er aufs beste abgeschlossen hatte. Araktsche-
jew hörte ihn an, streckte sich und gähnte.
Wenn du wüßtest, Dmitri, wie wohl mir ijt,
Register
Wolfgang Köhler: Das gläserne Attentat
Arnold Weiss-Rüthel: Jahreskalender
 
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