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3 9. JAHRGANG

END

1 9 3 4 / N R. l 3

„Dbb!" rief Frau von Heimgart entzückt,
als ihr Castelli einen großen bunten Ball in
die Loge warf.

-Dee Meisterjongleur, der im ersten Dariete
der Stadt auftrat, verschenkte noch mehrere
solcher Bälle, aber der, den Frau von Heim-
gart bekam, war entschieden der schönste. Er
stammte aus Bergaino lind trug ein phanlast'-
scheS Muster von grünen, gelben lind roten
Streifen. Rastelli hatte mit ihm atemberaubende
Experimente gemacht. Der Ball war rund um
feinen ganzen Körper gelaufen: von den Zehen
zum Knie, über den Schenkel znm Leib, dann
auf das Kinn, dann auf die Nase zur Stirn,
dann über den Kopf zum Nacken, und über
Rücken und Wade zurück bis zu'n Fuß.

Als Frau von Heimgart auf dem Nachhause-
wege war, drückte sie ihren Ball mit einem zärt-
lichen Impuls an sich und gedachte der Zeit, wo
sie selbst noch mit Bällen gespielt. Nachdem )i'e
sich überzeugt hatte, daß niemand zufchaute,
ließ sie den Ball aufs Pflaster fallen, um ihn
beiitt Aufschnellen zwei, drei, vier, fünf, sechs
Mal zurückzufchlagen.

Zti Hause setzte sie den Ball auf ihren Feu-
rich-Flügel und hütete ihn hinfort tue einen

eröavno

ö

Von Gert Lynch

Augapfel. Ihr Bruder, der um diese Zeit auf
Besuch kam und ein Sammler von Sonderlich-
keiten war, bot ihr hundert Mark für den
Ball, aber sie gab ihn nicht her. Sie freute
jich an diesem Andenken, wenn immer sie es
betrachtete, llnd wenn sie musizierte, so begann
der Ball auf der polierten schwarzen Fläche des
Flügels zu zittern und zu tänzeln, und Frau
von Hentigart dünkte es dann, als ob dieser
Ball nicht mit Ltift, sondern mit einer Seele
gefüllt wäre und Heinnveh hätte nach feinem
großen Meister.

Wenige Monate später ging die Nachricht
durch die Blätter, daß Enrico Rastelli, der
Welt bester Jongleur, eines frühen Todes ge-
storben und in Bergamo beigesetzt sei.

Frau von Heimgart war tief erschüttert. Sie
versah den Ball mit einer schwarzen Flor-
schleife und wagte fortan nicht mehr, mit ihm
zu spielen.

Aber Bälle sind unberechenbar, sie rollen
311 gern und zu leicht.

Eines Tages ließ Frau von Heimgart einen
blinden Klavierstimmer kommen. Es lvar
schwül im Zimmer und die Fenster wurden ge-
öffnet. Während der Mann am Instrument

saß, legte Frau von Heimgart Rastellis Ball
sorglos aufs Fensterbrett. Llnb da geschah es
denn: Der Blinde kam mit dem Ellbogen dem
Ball zu nahe, und der Ball schnellte geschmei-
dig zum offenen Fenster hinaus.

Als Frau von Heimgart den Derlust ent-
deckte, war sie untröstlich. Sie machte dem
Unschuldigen heftige Dorwürfe und ließ im
weiten blmkreise ihres Fensters die Straße ab-
suchen. Es nützte nichts. Der Ball lvar ver-
schwunden. Sie gab eigens ein Inserat in die
Zeitung, aber auch dieses verfehlte feinen Zlveck.
Die Baronin mußte sich damit abfinden, daß
das unersetzliche Andenken endgültig verloren
gegangen lvar.

Rastellis Ball indessen batte eine neue Lieb-
haberin gefunden. Kaum, daß er dem Fenster
entsprungen war und einige große Bogen in
Freiheit genossen hatte, lvurde er von der
zwölfjährigen Gerit Bauer, die gerade des
Weges kam, begeistert empfangen und in-
brünstig festgehalten. Damit begann für den
Ball eine betriebsame, lustige Zeit. Gerit nahm
ihn mit in die Schule, und in den Wochen, die
nun folgten, lief er durch vielerlei flinke Iung-

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Gert Lynch: Der Ball von Bergamo
[nicht signierter Beitrag]: Silhouette
 
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