Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DieWurzel KurtWeinhold-Calw

„(3d viel?" bohrt in der Nähe ein lvissensdurstiger Scholar.

„Wenig ist das. Der Karpfen kommt auf hunderttausend Eier."

Da setzt sich Hähnchen in Trab. Er rennt durch Feld und Dorf,
gelangt erst spät in seine vier Wände.

„Das Esten wartet schon auf Sie!" begrüßt ihn Frau Graziali.
„Nur noch rasch ein ganz frisches Ei auf das Beefsteak."

Er lacht hysterisch. „Fangen Sie wieder an! Sie sind des Teufels!"

Wahrhaft aufreizend pomadig äußert sie: „Wenn Sie mich grund-
los mit Grobheiten überschütten, so —"

„Schluß!"

„Meinethalben!"

Eine Taste fliegt hinter der Frau an die Wand, zerschellt.

-i-

Am nächsten Morgen erzählt Frau Graziali den empörten Haus-
genosten, Hähnchen fei tätlich geworden.

„Handgreiflich?" erkundigt sich Tapezier Pulzer schwer atmend.
„Dann müsien wir uns gegen diesen Fetzen Mensch wehren."

„Unbedingt!" pflichtet Vogelhändler Adam bei.

Herr Pulzer, DizepräseS des AntilärmvereinS, sucht seit Jahren die
Sache der Geräuschlosigkeit durch laute Rede und deutlichst vernehm-
bare N7itarbeit am Wochenblatt „Böllerschüste der Zeit" zu fördern,
^zm Vereinsanzeiger dieses DrganS läßt er Reklame-Raketen für den
Antilärmklub bündelweise zerknattern.

Jetzt, bevor er das erste Wort zu neuem Angriff herausbringt,
ertüchtigt er den in Versammlungen ohnehin durchtrainierten Körper
noch durch Tiefatmung nach der Reform-Methode Simson-HerkuleS,
blickt abgründig die Wände an, erhebt die rollende und grollende
Stimme wie Posiart und ist so schön wie der selige Sudermann im
Barte. Staunend lauschen drei Zuhörer seiner Botschaft:

„Hochansehnliche HauSgenostenschaft! Gegenüber hundertprozentig
eigenmächtigen Lärm-Drgien Hähnchens fällt uns die Notwendigkeit

erbitterter Abwehr zu. Den Mantel der Nächstenliebe über Hähn-
chens gottsträflichen Radau zu decken, wäre Frevel. Vielmehr gilt es,
heilige Güter der Menschheit, den Frieden deS HauseS, zu wahren.
Mein Heim ist mein Kästchen, wie der Engländer sagt. In kulturell
verankerter Welt müssen alle Freunde der Humanität, der Veredelung
und Höherzüchtung erfüllt sein von unserem Feldgeschrei: Nieder mit
dem Lärm! blnsere gesetzlich verbrieften Rechte lasten wir von keinem
Mitmieter antasten. Da gibt es keine Metamorphose des Willens.
Verstößt Hähnchen gegen unsere Belange, so sind wir nicht nur letzten
Endes, sondern schon anfänglichen Anfangs zu aufwallender Aktivität
gezwungen, Unter den ewigen Sternen erheben wir flammenden Protest
gleich Schillern, was, wie Sie wissen, einer der größten Dichter aller
Jahre war: Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, wir
wollen frei sein, wie die Väter waren!"

„Frei sein, nicht etwa vogelfrei!" bestätigte Vogelhändler Adam.

„Aber welche Tat beschließen wir?" fragte Frau Pulzer.

„Denn darüber sind wir uns wohl gleichfalls einig: ohne letzte Ent-
schlossenheit kriegen wir noch allesamt die Platze vor Angst und Ärger.

Herr Pulzer meint: „Ich will Ihnen was sagen, liebe Frau Gra-
ziali: greift Sie Ihr Gewalthaber mit seiner geistigen Minderheit ver-
stärkt an, so fühlt sich die Hausgemeinschaft solidarisch. Da muß Hilfe
herangezogen werden, telephonisch, sobald er Sie anrührt, stampfen
Sie dreimal mit dem Fuße. Das Zeichen wird mich zum Einschreiten
veranlassen. Der Polizeiarzt oder der Hausdöktor soll dem Mann
den Puls fühlen, die pathologische Furcht vor dem Wörtchen ,Ei
untersuchen. Sobald Sie das Zeichen geben, rufe ich den Doktor.

So verhandelten die Wohnungsnachbarn Hähnchens am Morgen
nach seinem harten Zusammenstoß mit Frau Graziali.

Und er? Abermals sind ihm nachts keine lieblichen Phantasien ^hold
gewesen. Vielmehr ist seiner überempfindlichen Seele der alte Christoph
Kolumbus mit der sturmgepeitschten Caravelle bei unbekannten Eilan-

i:

275
Register
Kurt Weinhold: Die Wurzel
 
Annotationen