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Acht Jahre war nun Trude schon in Klemkes Gasthof tätig. Sie
räumte die Zimmer auf, arbeitete im Garten und bediente abends lind
an den Sonntagen die Gäste. Sie war nicht besonders hübsch, die
Trude, schon damals nicht, als sie mit zwanzig Jahren ins Dorf ge-
kommen war, sie lahmte sogar. Manchmal bemerkte inan es kaum,
aber sie konnte doch nicht so gut tanzen und lustig sein wie die Mäd-
chen im Dorf an den Sonntagen. Fleißig war sie, ließ sich nicht un-
gebührlich mit den Mannsleuten ein, aber sie hatte für jeden einen
freundlichen Blick, ein gutes Wort, und wenn sie Sonntags, daö volle
Tablett in den Händen, durch den kleinen Saal lief, rief so mancher
hübscher Bursche: „Wie wär's denn mit einem Tanz, Trude?" Sie
schüttelte dann meist den Kopf, rechnete schon wieder aus, wieviel Biere
dort am Ecktisch nötig waren, lief hin und her. Ihre weiße Schürze
war immer blendend sauber. Wenn sie sich doch mal zum Tanz über-
reden ließ, nahm sie stets die Schürze ab, und dann sah man, wie
hübsch das Kleidchen war. Es war schade, daß sie eine Schürze tragen
mußte.

Mancher junge Mann hätte gern mit Trude angefangen, gab sich
Mühe, ihr zu gefallen, ihr Vertrauen zu erwerben, aber niemand
konnte sich in all den Jahren rühmen, TrudeS Herz erobert zu haben.
Sie wußte wohl selber nicht, auf wen sie wartete, für wen sie sparte.
Der Tag war voll Arbeit für sie,
und wenn sie spät abends ihre
Schlafkammer aufsuchte, fielen ihr
die Augen bald zu. Sie träumte
höchstens mal von einem Mann,
der ihr im dunklen Flur ein dum-
mes Wort zugeflüstert, von irgend-
einem Gesicht, daS sie benn Tanz
angelächelt.

An einem Sonntag sprachen
die jungen Leute von ihr. Sie
hatte ihnen eben Bier an den Tisch
gebracht. Ein junger Mann sah
ihr achselzuckend nach. Er hatte
am letzten Sonntag vergeblich
unter ihrem Fenster auf sie ge-
wartet. Er hatte ihren Namen
geflüstert, aber oben war das
Licht verlöscht und nichts hatte
sich inehr geregt.

„Sie hat eben nicht nur ein
lahmes Bein, sondern auch ein
lahmes Herz!" sagte der junge
Mann so laut, daß es Trude
hören inußte. Da aber war am
Nebentisch plötzlich jemand auf-
gestanden, zu dem Spötter ge-
treten, und im nächsten Augen-
blick hatte der Verdutzte seine
Ohrfeige weg. Es entstand keine
Prügelei, sondern ein Freund des
Geohrfeigten klärte die Lage, in-
dem er feststellte: „Die hast du
redlich verdient, Paul!" blnd die
andern lächelten. Der Mann, der
den Fremden geohrfeigt hatte, war
der junge Tischlermeister Barthel.

nur der nicht, mit dem sie gern getanzt hätte: Barthel Heinrich. „Lahmes
Herz!" grübelte sie, als sie in ihrer Kammer lag. Sie wußte keine Ant-
wort. Müde schlief sie ein. Der Morgen dämmerte schon über dem Feld.
In den Ställen regte sich das Vieh.

Manchmal kam Gertrud an Barthels Tischlerwerkstatt vorüber. Er
grüßte nicht freundlicher als sonst. Aber ihr Herz schlug schneller. An
den Sonntagen erfüllte sie dann eine nie gekannte Unruhe. Sie zuckte
zusammen, wenn die Tür zum Gastzimmer knarrte. Ihr Blick ging
über die Tische, an denen oft fremde Männer saßen, nur Barthel
Heinrich ließ sich selten sehen. Er saß lieber mit seiner Frau daheim
und blickte froh dem Spiel der Kinder zu. Wenn Barthels Frau ge-
legentlich in das Gastzimmer kam, etwas zu holen, war Gertrud un-
geschickt, verlegen, und ihr Lahmen merkte man mehr als sonst. Einmal
kam Hannchen, Barthels Jüngste, Brot holen, und Gertrud war
gerade im Laden allein, da griff sie plötzlich in die hohe Bonbonblech-
büchse, zweimal, dreimal, und das Kind hielt zunächst mehr erschrocken
als dankbar die kleinen Hände auf.

Niemand merkte, was in TrudeS Herz vorging. Das Wort vom
„lähmen Herzen" war längst vergessen. Aber sie hielt es fest. Es tat
weh. Es schlug, zuckte, war längst vergessen. Es stimmte auch nicht.

TrudeS Herz brannte darauf, fort-
zulaufen. Aber sie hielt es fest.
Es tat weh. Es schlug, zuckte,
schrie, revoltierte, aber sie hielt
es fest.

Hin und wieder tauchte Hein-
rich im Gasthof auf, dann be-
diente sie ihn nicht eifriger als
irgendeinen andern. Sie vergaß
scheinbar, daß er ein Bier bestellt
hatte. Er mußte rufen: „Hast du
mich vergessen, Trude?" Da kam
sie errötend mit dem Bier an und
ging gleich wieder, blnd lahmte
sehr. Weil sie ihr Herz so fest-
halten mußte. All die Monate,
Jahre hindurch.

Als Gertrud das achte Jahr in
KlemkeS Dienst stand, starb Frau
Barthel. Am nächsten Abend karn
Heinrich ins Gasthaus. Am über-
nächsten Abend wieder. Jeden
Abend kam er nun. Er saß in
seiner Ecke und bestellte Bier,
Korn, wieder Bier, manchmal
zehn an einem Abend.

Einmal kam er schon am Nach-
mittag. Er trank das Bier mit
einem Zuge aus.

„Noch eins!" sagte er. Ger-
trud griff daS leere Glas, zögerte,
da setzte sie sich plötzlich an den

Tisch.

„WaS macht Hannchen? fragte
sie, „ist ja in letzter Zeit mächtig
gewachsen. Die Kleider werden
ihr schon viel zu kurz."

Madonna am Bach Marianne Rohland

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Register
Kurt Rudolf Neubert: Das lahme Herz
Marianne Rohland: Madonna am Bach
 
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