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j U G E

3 9. JAHRGANG

D

N R. 37

NEUES ERLEBEN

VON HERMANN HESSE

Wieder seh ich Schleier sinken
Und Vertrautestes wird fremd,
Neue Sternenräume winken,

Seele schreitet ungehemmt.

Abermals in neuen Kreisen
Ordnet sich um mich die Welt
Und ich seh mich cileln Weisen
Als ein Kind hineingestellt.

Doch aus früheren Geburten
Zuckt entfernte Ahnung her:
Sterne starben, Sterne wurden
Und der Raum war niemals leer.

Seele beugt sich und erhebt sich,
Atmet in Unendlichkeit,

Aus zerrissnen Fäden webt sich
Neu und schöner Gottes Kleid

KARL KURT WOLTER:

LETZTE BEGEGNUNG MIT EINEM GROSSEN

Das geschah während der Schulferien im
Herbst 1919, da mich die Eltern nach München
Mitnahmen zu Besuch bei meiner Tante in
Bogenhausen. Es war ruhig geworden in der
Stadt, nach jenen Wirren des Frühjahres mit
all dem Trubel und Lärm. Eine Stille wie von
müder Abgespanntheit lag über den herbstlichen
Straßen und Plänen, die der Wind fegte und
der Regen wusch. Die Not bedrückte die Be-
wohner, denn die Lebensmittel waren knapp
wie zuvor in den Jahren des Krieges. Lind
allenthalben hauste die Grippe.

Auch mein Detter — vierzehnjährig wie ich
— hatte einige Tage daS Bett hüten müssen.
Nun, da er wieder aufgestanden war, schien eS
mir so, als bliebe auch ich nicht verschont. Wir
drückten uns beide in den Zimmern der ge-
räumigen Wohnung herum und vertrieben
uns die Zeit, so gut eS angehen wollte. Wir
zeichneten Karikaturen oder deklamierten Derse
und spielten Theater, denn mein Detter liebte
eS, dramatische Szenen zu verfassen, die er, ge-
meinsam mit seinem Schulfreund Roland
Ziersch, mir vorsührte.

Die Erwachsenen aber saßen nebenan im
Salon beisammen und unterhielten sich von
den Geschehnissen der vergangenen Revolution.

An einem dieser regnerischen Spätnachmit-
tage trat die Tante zu uns ins Ziminer, faßte
mich bei der Hand und zog mich zu sich.
„Morgen", sagte sie dabei lebhaft erregt,
„morgen kommt Possart zum Tee. Er ist auf
der Durchreise. Llnd abends darfst du dann in
die Oper."

Possart kam! — ich freute mich, denn ich
versprach mir Abwechslung von seinem Be-
such. Dabei gedachte ich der Zeit vor dem
Krieg, alö wir — noch kleine Kinder — im
Garten unter seinen: Fenster spielten und der
komische dicke Mann, der so herrliche Ge-
sichter schneiden konnte, unser Spiel tätig be-
gleitete. Anfangs entfernt, vom Fenster des
Badezimmers aus, später aber zwischen unS

in weißem Morgenrock schreitend, liebte er eS,
sich an unserem Treiben zu beteiligen. Wenn
aber dann, was manchmal geschah, einer der
Erwachsenen hmzukam — etwa meine Tante—,
so ereignete sich stets das gleiche. Mit
einem Ausruf des entsetzten Erstaunens trat
Possart einen Schritt zurück, zog seinen Rock
fester zusammen und ries schmerzlichen An-
gesichts: „Frau Baronin, Sie erblicken mich
Unglücklichen im größten Neglige!" Das gefiel
mir jedesmal ungemein.

„Fein, daß er komnit", sagte ich deshalb
jetzt zu meiner Tante, dann kann er ja wieder
mit uns spielen."

„Er ist nicht mehr wie früher", entgegnete
meine Tante nachdenklich, ehe sie uns wieder
verließ. „Er ist inzwischen alt geworden..."

„Vielleicht können wir ihm die Regie
unseres neuen Dramas überlassen", schlug
mein Detter vor.

„Geben wir ihm lieber eine Sprechrolle",
meinte Roland Ziersch.

„Er wird uns jedenfalls nicht enttäuschen",
beschlossen wir und waren uns einig.

*

Leider wurden wir aber anderntags doch
etwas enttäuscht. „Die Jungens" (das waren
mein Detter und ich) dursten näinlich erst nach
dem Tee in den Salon kommen. „Possart kann
nicht mehr so viele Menschen um sich haben",
erklärte die Tante und vertröstete unS. „Spä-
ter dürft ihr dann Seine Erzellenz begrüßen."

Diese Anordnung brachte für uns zwar auch
gewisse Vorteile mit sich — wir konnten bei-
spielsweise der Platte mit den belegten Brot-
schnitten ungehennnt zu Leibe gehen — ander-
seits aber hätten wir ebenso gern an der klnter-
haltung Teil gehabt, die verworren und ge-
dämpft aus dem Nebenzimmer herüberdrang.
Wir warteten ungeduldig bis endlich der Augen-
blick nahte, da man uns rief. An dem Tee-

geschirr hinaustragenden Dienstmädchen vor-
bei, drängten wir unS in den Salon.

Es dämmerte bereits, aber inan hatte kein
Licht entzündet. Dort, wo die Schatten zur
Dunkelheit wurden, saß Possart, klein, ein
ivenig gebeugt im hohen Lehnsessel, ein Greis
mit faltigem Gesicht.

Wir traten vor ihn hin und machten unseren
Diener. Der Weißhaarige wendete sein Haupt
und reichte uns die Hand.

„Oh", sagte er langsam, während er mir
die Hand drückte, und blickte mich aus wasser-
hellen Augen an, „ich habe Sie schon als
kleines Kind gekannt." Ich machte eine neue
Derbeugnug — Possart hatte „Sie" zu mir
gesagt, während man unS doch in der Schule
noch ein halbes Jahr lang duzen durfte!

-„Sie sind groß geworden, junger Mann",
lobte der Greis und klopfte mir leise aus den
Arm.

„Ja, die Jugend wächst heran", sagte meine
Mutter und seufzte ein wenig.

Dann herrschte eine Weile Stille zwischen
den Großen. Wir Jungen setzten unS abseits
nieder, wartend, was Possart erzählen werde.

Er sprach jedoch lange nichts. Es schien, als
gebe er sich ganz der Erinnerung hin. Sein
Blick durchmaß den weiten Raum, in dem die
Schatten dunkler wurden. Hier hatte er jahre-
lang gewohnt; hier hatte er seine Besuche emp-
fangen aus aller Welt, Künstler und Fürsten,
Sängerinnen und Komponisten. Dort, auf dein
breiten MarmorstmS des Kamins, hatten die
zahllosen Photos der Auserlesenen gestanden
mit Widmungen glühender Verehrung. Auch
Caruso war darunter, der sogar uns Kindern
iminerhin etwas galt — fang er doch im
Grammophon. Dies HauS war berühmt ge-
wesen als Stätte des Frohsinns und der Gast-
freundschast, der Prinzregent selbst hatte ihm
köstliche Statuen geschenkt aus dem Würz-
burger Schloßgarten und unten im Hausflur
hing eine Tafel der „dankbaren Stadt".
Register
Hermann Hesse: Neues Erleben
Karl Kurt Wolter: Letzte Begegnung mit einem Grossen
 
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