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J U G E

3 9. JAHRGANG

N D

1,9 3 4 / N R. 4 0

WALTER MICHEL:

Johannes der Helfer

EINE BAUERNGESCHICHTE AUS RUSSLAND

Die Wiatka fließt in die Kama. Die Kama
fließt in die Wolga. In der fruchtbaren
Wiatkan ied e r unq liegt der «Orf Wiatka. Mitten
in diesem Ort, in einer halbverfallenen Scheune,
hausen dreihundert deutsche Kriegsgefangene.

Es ist im März 1917.

Beim russischen Lagerkommandanten erschein:
eine Bäuerin. Sie hat ein breites volles Ge-
sicht, graue Augen, die gleichgültig in den Tag
hineinsehen, und sie ist breithüftig und über
Durchschnittsgröße.

Sie sagt: „Herr, gib mir einen Kriegs-

gefangenen, der mir den Acker bestellen hilft.
Ich habe zwei Pferde, zwei Kühe, Ziegen und
Schweine, die versorgt sein wollen. ,@r‘ ist
schon sechzehn Monate an der Front. Ich
glaube, daß er noch lebt. Er wird schon ein-
mal wiederkommen, denke ich, aber ich kann
nun nicht mehr länger aus ihn warten. Ich
schasse eS nicht mehr alleine, ich brauche Hilfe."

Der Lagerkommandant läßt zwanzig Kriegs-
gefangene auf den schmutzigen Hof treiben. Er
sagt: „Geh, und such dir einen auS."

Die Bäuerin wandert langsam an den zwan-
zig Männern vorbei. Sie mustert und schätzt.
Sie will einen haben mit breiten Handgelenken,
mit hohem Brustkorb. Groß und breitschultrig
soll er sein. Er muß zupacken können. Ilnd
vorn Vieh und der Landwirtschaft muß er auch
viel verstehen. Nein, so dumm ist sie nicht, daß
sie sich einen aussuchen wird, der so tut als
verstehe er alles, und dabei zu Hause in einer
Schreibstube sitzt. „Komm mal da raus", sagt
sie zu einem, der ihr der Rechte zu sein scheint.
Sie denkt, wenn er alleine steht, kann man um
ihn herum gehen und ihn von allen Seiten
besehen.

Da steht er nun. Ja, er ist groß und breit-
schultrig, und hat ein paar Fäuste die eine
Wagendeichsel zerbrechen könnten. „Kannst du
robotten?" fragt sie. „Weißt du mit Pferden
und Kühen umzugehen? Kannst du mir helfen
mein Land bestellen? Kannst du auch etwas
russisch, damit wir uns verständigen können?"
Ihre grauen Augen sehen ihn fragend an.

„Ich Hab selbst Land", sagt der Manu.
„Ich bin ja Bauer.'" DaS sagt er russisch.

„Wo hast du dein Land?"

„In Pommern."

„Wo ist Pommern? . . . WaS ist das Pom-
mern? .. . Komm mit, wir werden arbeiten,
und uns von Ponnnern unterhalten."

Sie sitzen im kleinen Paniwagen nebeneinan-
der auf dem schmalen Brett, und fahren in das
Land hinein. Es ist windig. Hier und da liegt
noch der letzte Schnee. Am Himmel brausen
die Wolken eilig dahin als hätten sie noch einen
weiten Weg. Dann und wann bricht die Sonne
hervor.

Der Mann sagt: „Gib mir die Leine. Wenn
Frau und Mann fahren, hält der Mann die
Leine."

„Du kennst den Weg nicht."

„Du kannst ihn mir zeigen. Gib mir die
Leine."

Einen halben Werst lang denkt sie darüber
nach ... wenn Frau und Mann fahren . . .
Dann reicht sie ihm die Leine. „Nimm", sagt sie.

Der Mann denkt: Nun habe ich wieder ein

Fremder mit dem Schlehenslabe,
tritt herein in dieses Haus,
habe teil an unsrer Habe
und am Herde ruhe aus.

Lasse ab von dem Entfernten,
wurzele ein in dieses Land!

Überreich sind unsre Ernten.
ohne Frucht der Straßen Sand.

Bauer du, mit Pßug und Spaten,
hoffe nicht auf lange Rast,
kann nicht pßegen deine Saaten,
darf nicht bleiben, bin nur Gast.

Locke nicht mit deinen Ernten,
nicht mit deinem Haus aus Stein.

Unter jeglichem besternten
Himmel reift mir Brot und Wein.

Wanderer mit den grauen Haaren,
bleibe, bis das Licht erwacht.

Lauernd bergen sich Gefahren,
schwer und unhold schwelt die Nacht.
Schweflig quillt im Irrlichtscheine
böser Tau auf Halm und Rohr.

Kobold hockt am Wiesenraine,

Unke harrt auf dich im Moor.

Erdbesitzer, Erdbeseßner,
nie begreifst du diesen Lauf.

Weiter tun und unermeßner
jetzt sich mir die Welten auf.

Nächtens muß sich offenbaren,
was der laute Tag verschweigt.

Freudig wittre ich Gefahren.

Lebe wohl! Orion steigt!

Wolfram Brockmaier

Pferd in den Händen. Ich sitze wieder auf
einem Bauernwagen. Ich bin frei. Seine
Augen tasten liebend die Felder ab. Er sag::
„Das Pferd hat festgebackenen Mist am Leib.
Der muß weg. Ein Pferd mit Mist am Leib
das geht nicht. Der Wagen quietscht. Die
Achsen müssen geschmiert werden."

„Warum schmieren", sagt sie, „die Räder
drehen sich noch."

Er lacht. Er lacht wie ein Junge, und ist
schon sünfunddreißig Jahre alt.

Der Weg wird noch schlechter. Die Räder
versinken im Schlamin. Er springt ab, nimmt
das Pferd beim Zügel und geht nebenher. Er
klopft dem Pferd den Hals. Bleibt plötzlich
stehen, holt eine Handvoll Stroh aus dem
Wagen, macht ein kleines Polster und befestigt
es zwischen Pferdebrust und Lederzeug. „Es ist
ja ivund gescheuert", sagt er, „es wird im Stall
stehen bis es auSgeheilt ist." Er tritt an daS
Hintere Wagenrad, greift mif den Fäusten in
die Speichen und schnalzt mit der Zunge. So
macht er es den ganzen langen Weg.

Die Bäuerin sitzt auf dem Wagen und
schüttelt den Kops vor Verwunderung. Ein-
mal sagt sie: „Soll ich absteigen?"

„Nein. Ich schaffs schon alleine."

Sie schüttelt den Kopf. Waö für ein Mann,
denkt sie. WaS für ein Mann. Sie muß
immer auf seine Handgelenke sehen, die so breit
und kräftig sind. WaS soll man nur zu solchen
Handgelenken sagen.

*

Die Tage vergehen. Ilnd die Wochen. April,
Mai, Juni. Der Bauernhof hat schon längst
ein anderes Gesicht bekommen. Nicht zum Wic-
dererkennen ist er. Das blitzt nur so vor deut-
scher Sauberkeit, blnd alles steht und liegt und
hängt ordentlich an seinem Platz. Am Garten-
zaun fehlt keine einzige Latte. Der Ziehbrunnen
ist auch wieder in tadelloser Ordnung. Die
Wagenräder quietschen nicht mehr, und die
Pferde haben ein glänzendes Fell. Bon den
Kühen und dem andern Vieh schon gar nicht
zu reden. Die Äcker sind bestellt. Nun mag der
Himmel sorgen.

Am Abend, so in der Dämmerstunde, sitzen
die beiden Menschen auf der neugezimmerten
Bank, die auf dem Hof unter der Weide steht,
und unterhalten sich. Manchmal sitzen sie auch
nur so da und reden kein Wort. Sie wissen
noch nicht viel voneinander. Er nennt sie
Marja. Sie sagt Johannes zu ihm. Das ist

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Wolfram Brockmeier: Zwiegespräch
Walter Michel: Johannes der Helfer
 
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