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J u

3 9. JAHRGANG

G E N D

1 9 3 4 / N R. 4 7

HERBSTLICHE ODE

VON H. CHRISTIAN SARRAZNI

Noch immer blühn die Wolken in zartem Licht,
Der Wind hängt, sanfter tönend, im Laubgewölb’,
Und aus dem aufgetanen Himmel
Rinnt noch wie Sommers die kühle Bläue.

Doch früher geht der goldne Lag hinab.

In Kebelnächten fröstelt das leere Haus,

Wenn wir bei stiller La?npe sitzen
Und in vergilbten Gesängen lesen.

Vielleicht schon morgen raschelt der Fuß im Laub.
Die Stürme klirren höhnend in unsern Schlaf!
Unendlich stürzt der Regen nieder;

Trauriges nistet in schwarzen Zweigen.

O bald ist Winter, Freunde, das Licht erfriert.
Wir werden stumm im gläsernen Weltenhaus,
Und wie erblindet schläft die große
Nährende Flamme vergangner Sommer.

MANDOLINENLIEDCHEN

ermann

Q)on QOilLlm fäuff«

Illustriert von Rubey

Es war ein unendlich fröhlicher Morgen,
den der Himmel niedergesenkt hatte. Seit
Sonnenaufgang zwitscherten kleine Sänger in
den grünen Blätterhallen der Kastanienallee,
und die langgestreckten gelben Gebäude am
Ende zwischen Straße und Bahndamm glänzten
mit ihren roten Dächern vor Freude. Das
Fröhlichste im Umkreis aber war die alte
Straßenmusikantin Rikla mit ihrer Mando-
linenmusik. All die vielen sinstertrotzigen
Männer, die jungen und alten Frauen mit von
Arbeit verkniffenen Augen, alle blieben ein
Momentchen bei der alten Rikla stehen. Wur-
den hell. Sangen den Refrain mit. Rikla
spielte immer abwechselnd zwei Liedchen von
Menschenlieb' und Menschentreu'. So ziemlich
von gleicher Melodie und eigentlich ohne richti-
gen Refrain mit Worten. Es war mehr ein
taktmäßiges zärtliches Gesumme, das die Be-
wegungen ihrer zupfenden Finger begleitete, bis
diese den passenden Schlußakkord gefunden
hatten.

Geanina sang auch nu't. Und bald kamen
Gigia, Eusebio, Ollaria und alle die anderen.
Die Liedchen flogen ihnen entgegen. Setzten
sich auf ihren Lippen fest. Auch sie blieben
stehen. Als sie dann weiterschlenderten, nahmen
sie die Melodie in die Fabrik mit, wie einen
Hauch, der von draußen grüßt. Zum zweiten

Male heulten die Fabriksirenen. Noch ein
Soldo, sicher der letzte, fiel in RiklaS Blech-
tellerchen, ihr Glockenspiel, und sie schlug be-
schämt und beglückt die Augen nieder. Sie
zupfte noch ein wenig die Mandoline für sich
selbst, schloß schließlich die Augen ganz und
blieb unbeweglich wie eine Statue auf ihrem
Baststühlchen sitzen. Aber wie eine Statue, die

plötzlich durch die Zaubermacht der warmen
Sonnenstrahlen laut und rasselnd schnarchen
kann.

Zwei Straßenjungen kamen mit einer Schnur
samt Angelhaken angeschlichen, rollten die
Schnur ab und steckten den Haken vorsichtig
in RiklaS Musikinstrument. Stellten sich ein
gut Stück weiter weg hinter eine dickstämmige
Kastanie und weckten die alte Musikantin auf
barbarische Weise: Die Mandoline zappelte

plötzlich auf RiklaS Schoß, flog auf und
davon. Hüpfte schrillend über das Straßen-
pflaster. lllnd zwei soeben noch schlafende
Augen öffneten sich weit und erschreckt.

Rikla war keine Freundin von solchen
Scherzen. Wie eine Henne, die den Todesstoß
erhielt, zeterte sie auf. Ihre quabbeligen Arme
schwingend lief sie mit großen Sprüngen auf
die Knaben zu. Auch die Rangen schrien wie
am Spieß, und verstanden, eine gehörige Ge-
schwindigkeit zu entwickeln. Nur eines war
in ihrem schon vorher zurechtgelegten Flucht-
plan nicht bedacht worden: Als die wilde Jagd
den Bahndamm aufwärts tollte, brauste ein
Zug über das Geleise.

Unterdessen stand Geanina in einem der
Fabriksäle an der Maschine und sang. Ein
-^uch um den Kopf geschlungen, den Rücken
gekrümmt. So sang sie. Auch Ollaria, Euse-
bio und die anderen summten das Liedchen mit,

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Register
Hans Christian Sarrazin: Herbstliche Ode
Wilhelm Auffermann: Mandolinenliedchen
Rubey: Illustrationen zum Text "Mandolinenliedchen"
 
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