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Der Meermann

Nach einer alien Chronik
Von Hermann Hesse

Trotz den vielen Humanisten, die es im Anfang deS 15. Jahrhunderts
in Italien gab, passierten damals zwischen Mailand und Neapel viel
erstaunlichere Dinge als heutzutage; wenigstens reißen die Chronisten
jener Zeit trotz ihrer gelegentlichen Altklugheit alle Augenblicke die
Augen weit auf und berichten mit der ihrem Berufe zukommenden
Treuherzigkeit ganz wunderliche Sachen. Ein solches, von zahlreichen
Augenzeugen beglaubigtes Ereignis aus eben jener Zeit ist das folgende.

Eine Stadt am Meere, eine zwar nicht große, aber uralte, hoch-
berühmte und von vielen Zierden der Kunst und Wissenschaft bewohnte
Stadt errichtete auf dem Standort eines längst vom Boden verschwun-
denen Neptuntempels eine schöne Kirche. Sie wurde vollendet und ein-
geweiht und von jedermann mit Stolz und Freude besucht und be-
trachtet, nur nicht von den Bewohnern des eifersüchtigen Nachbar-
städtchenS.

Da geschah eS kurze Zeit nach der Einweihung jener Kirche durch
den Bischof, daß ein grausiger Sturm ausbrach, der mit unerhörter
Stärke vier Tage und Nächte wütete. Mehrere Fischerbarken gingen
mit Mann und MauS unter, ein Segelschiff mit reicher Warenladung
versank unweit der Küste, und vom Turm der neuerbauten Kirche wurde
das zentnerschwere vergoldete Kreuz ausgerissen. Es stürzte aus die
Kirche, durchschlug daS Dach und blieb verwüstet und verbogen im
inneren Gebälke hängen. Manche fanden, seine jetzige Form sei die
eines Dreizacks, und schlossen daraus auf eine Rachehandlung deS
beleidigten Meergottes. Andere bemühten sich, die Haltlosigkeit dieser
Behauptung darzutun, man erregte sich über die Frage, und bald war
die ganze Stadt deswegen in Streit und Eifer. Der große Historiker
Markus Salestris verlas im Ratssaal eine Abhandlung über Wesen
und Geschichte der Meeresgottheiten, eine wackere Arbeit voll alter
Zitate und Hinweise aus die Werke der Alten wie auch der Kirchen-
väter, die am Schlüsse in der Überzeugung gipfelte, die ehemaligen
Meergötter seien entweder auögerottet oder doch in unbekannte und
öde Ozeane jenseits der Erdteile entwichen.

Ihm antwortete der berühmte Redner CäsariuS in einem öffentlichen

Bortrag, ünter Anerkennung der Gelehrsamkeit und Verdienste des
Salestris behauptete er mit Überzeugung das Gegenteil und machte
seine Ansicht vielen überaus wahrscheinlich, indem er aus Chroniken
wie aus Seesahrerberichten neuerer Zeiten viele Fälle von Begegnungen
zwischen Menschen und heidnischen Meerwesen auszählte.

Inzwischen hatte der entsetzliche Seesturm nachgelassen, und wenn auch
die See noch ziemlich bewegt war, konnten doch Fischer und andere
Leute, die ihr Gewerbe am Strand betrieben, wieder ihrem Berufe
nachgehen.

Da kamen eines Morgens Fischerweiber in die Stadt gelaufen und
verkündeten schreiend, es liege am Sanduser vom Meere hergespült
ein Ncann nackt und halb vom Seetang überzogen. Sie vermuteten in
ihm den Leichnam eines von den im Sturme ümgekommenen, und ln
Bälde begleitete sie eine große Schar, teils Hilfsbereiter, teils Neu-
gieriger zum blfer. Sie nahmen Stangen, Netze und Seile mit, einige
machten auch ihre Boote flott, und so näherten sie sich dem Körper,
der unweit des Strandes, scheinbar im Schlinggewächse verwickelt, im
Takt der noch unruhigen Brandung aus und nieder schaukelte. Frauen
wehklagten und beteten, Jünglinge und Kinder sahen mit Grausen auf
den bleich schimmernden Körper, der bald bis zur Brust sichtbar wurde,
bald nur noch eine Hand über Wasser zeigte.

Des unsicheren Bodens und der vielen üntiefen wegen fand man
es geraten, den Leichnam von drei Booten aus mit einem Schleppnetz
einzuholen. Erfahrene Männer führten dies aus, und eS gelang.

Entsetzt aber schrie die Menge der Zuschauer auf, als der vom Netz
umschlossene Körper sich plötzlich heftig bewegte. Er riß ain Netz und
schlug mit den Armen, und unvermutet stieß er ein so wildes und
scheußliches Gebrüll aus, daß jedermann das Herz erstarrte. Zugleich
warf er sich wie im Krampf in die Höhe, und nun konnte man sehen,
daß er mit einem gewaltigen Fischschwanze an Stelle der Beine ver-
sehen war.

„Ein üngeheuer! Ein Meermensch! Ein Seeschreck!" riesen alle
durcheinander, und nicht wenige ergriffen die Flucht. Die Männer in

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Hermann Hesse: Der Meermann
Hermann Mayrhofer: Winter am Maisingersee
 
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