DIE TRAMBAHN
NACH WEIHNACHTEN
VON ERNST HOFERICHTER
Überfüllt holperte der Straßenbahnwagen
eine Handspanne weit vor dem Weihnachts-
abend zwischen Schaufensterhelle und Schnee-
gestöber.
Im Schoß der Fahrgäste lagen Kinder-
trompeten, schlafende Patentpuppen, Selbst-
binder, elektrische Bügeleisen und eine Kom-
panie bleierner Infanterie.
Dazwischen saßen etliche, die nichts als ihre
Hände in die Taschen zu stecken hatten, blnd
ihr Blick verglich vorstellend den Preis mit
dem Wunsch.
„Eine Christbaumspitze mit Wachsjesulein
kostet..." rechnete die Frau des VerjicherungS-
agenten, an die Türe gepreßt, und versuchte
vergebens, die eisige Zuglust des Wagens in
die Wärme von drei Stück Briketts einzu-
wechseln.
Ein Herr im Pelzmantel zupfte vorsichtig
sein Paket mit Lebkuchen aus, um zu prüfen,
wieviel eS Schokoladeguß und Vanilleglasur
enthält.. . Augenblicklich roch es nach Nürn-
berg mit Burg und Dürerhaus.
Der Dame in der Seehundjacke hing spiele-
risch an jedem Glacefinger ein kleines Paket —
und da alle Aste ihrer Hand beseht waren,
dachte der Schaffner „...jetzt noch etwas
Engelshaar und Watte darüber, der Baum ist
komplett und das Christkind ist gekommen..."
Gedankenverloren zog er an der Wagenklingel,
um die Bescherung anzuläuten, und die Dahn
hielt aus offener Strecke .. .
„. . . kostet achtundsechzig Pfennig .. " hatte
die Frau, die den Christbaumspitz kaufen
wollte, inzwischen ausgerechnet, und zählte in
der Tasche ihr Geld durch Greifen nach. Noch
ein Dutzend Hinterhofköpse rechneten ihre
Weihnachtssehnsüchte kreuz und quer, zählten
zusammen, strichen, nahmen „eins" zu leihen
— und es wollte doch immer nur ein Lehr-
mädchengeschenk werden. . .
„Linie 23 ..." lernte ein Kleinrentner aus-
wendig vom beleuchteten Fahrtschild deS
Wagens ab, setzte das Wort „Pfennig" da-
zu — uyd hatte plötzlich die Meinung — der
ganze Trambahnwagen würde frisch aus einem
NippeS-Bazar fahren und 23s Pfennig gekostet
haben.
„. .. Eine Tafel Bruchschokolade kostet das
gleiche..." blnd daS „Kosten ... kosten . : :
kostet. .." fuhr kostenlos tausendfältig mit,
stieg ein und auS und war nicht parfümiert,
wie die nahe Verwandtschaft „Feinkost", die
nur im Auto fuhr ...
„Kleine, wenn du kein Geld hast, mußt
du ..." redete der Schaffner zu einem weizen-
blonden Mädchen, das eingestiegen war, als
er in Gedanken verloren die Wagenglocke als
Weihnachtsklingel gezogen hatte.
„. .. aussteigen ...!" sagte er nicht mehr,
und doch stand eS wie ein Schrei im Wagen,
den alle als einen Pfiff, der nicht gepfiffen
wurde, gehört hatten.
Berge
Berge sind heilig,
Schemel Gottes.
Hilfe kam immer
Gläubigen Völkern
Hoch von den Bergen.
Adler und Raben,
Weissagende Vögel,
Schweben um Berge,
Hilfeberatend.
Riesen entstiegen,
Felsgeborene,
Felsenrollende,
Zwerge, Hüter
Glühender Schätze
Ihrem Geklüft.
Bergentsprossene
Burgen wachen,
Wächter deS Tales.
bind da kommst du —
SpätgeboreneS,
Gottentfremdetes
Wichtlein
Mensch,
Lockerst Steine,
Schätze raubend,
Berge zerstörend.
Hüte dich!
Adler wachen,
Raben erheben Geschrei,
Riesen brauchen Gewalt,
Zwerge sinnen aus List,
Götter ahnden
Deine Schändung
An ihrem Werk.
Georg Schwarz.
Das Mädchen trug zwei Pakete unterm
Arm und die Hände waren blau, wie die
Flüsse auf Landkarten.
„Zwanzig Pfennig kostet der Fahrschein . ..!"
ries der Schaffner und der Herr im Pelz-
mantel roch in sein Lebkuchenpaket hinein, um
eine Verpflichtung zu überhören. Und die See-
hunddame ließ absichtlich den Karton Flieder-
seife zu Boden fallen, damit die „Zwanzig
Pfennig" gedämpfter ihr Ohr trafen.
„Also, ohne Fahrschein darf nicht..."
„...also, wenn ich dann nur die Christ-
baumspitze kaufe — ohne Wachsjesulein, dann
kann ich . ..", und die Frau des Versicherungs-
agenten drückte in dem Augenblick, da alle
Köpfe sich nach dem leuchtenden Stern von
Bethlehem einer Juwelierlichtreklame umbogen,
daS Fahrgeld in die blaueisigen Hände des
Mädchens.
Wäre in einem der vielen Pakete des
Wagens ein Geschenkthermometer verschnürt
gewesen, hätte es jetzt um etliche Grade in die
Höhe gehen müssen.
Der Pelzmantel wurde geöffnet wie ein
Garagentor und der Bauch deS Herrn fuhr
als Luxuslimousine daraus hervor.
„bind was hast du denn in den zwei Pa-
keten ...?"
„Heu und Stroh. . ." flüsterte eS weißgelb.
„Im Kopf jedenfalls...!" wieherte der
Pelz und trommelte auf feine Lebkuchen mit
Oblaten den Einzugsmarsch der Gladiatoren.
Die Agentenfrau rieb die gefrorenen Hände
deS Mädchens, in die sich die Paketschnüre
wie Peitschenhiebe eingekerbt hatten, zu rosa
Blüte auf — und im Wagen wurde eS um
tausend Kerzenstärken heller.
AuS den elektrischen Sicherungen sprangen
violette Blitze und überm Wagendach ertönte
eine leise Melodie, als wäre plötzlich die
Leitungsstange zur Grammophonnadel gewor-
den, die auf der bestimmten Platte des Him-
mels silberne Takte abspielt.
Alle Fahrgäste wurden gerührt wie Kuchen-
teig. Ein AuSgeher verteilte an Minder-
bemittelte Hustenbonbons. Die Eiüblumen am
Fenster wurden Palmenzweige und wedelten
in der Fahrtrichtung. Als der Schaffner den
nächsten Fahrschein abgeben wollte, wurde er
in seiner Hand zu einem Honigplätzchen. Sein
Bart wuchs in der Minute um Zentimeter —
bis in seine Tasche mit Kleingeld hinab.
„Ein Wunder...!" schrie eine Knopsloch-
näherin. blnd der Führer zog die Notbremse
— damit dieses Wunder nicht unter die Räder
komme.
Augenblicklich blühten im weizengelben Haar
des Mädchens haselnußgroße Sterne aus und
ein Fachmann ries: „Achtzehn Karat...!"
„Nächste Haltestelle Bethlehem...!" sang
der Schaffner selbstverständlich, als würde er
an dieser Station schon seit zwanzig Jahren
an halten.
Jäh wurden die Weihnachtsplakate über
den Wagensenstern lebendig und die Figuren
kletterten mit ihren angepriesenen Geschenken
an den Holzrahmen herab und verteilten sich,
wie ein Wohltätigkeitsbazar.
Da stieg kurz vor der Haltestelle der Kon-
trolleur in den fahrenden Wagen: „Fahrscheine
vorzeigen.. .!"
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NACH WEIHNACHTEN
VON ERNST HOFERICHTER
Überfüllt holperte der Straßenbahnwagen
eine Handspanne weit vor dem Weihnachts-
abend zwischen Schaufensterhelle und Schnee-
gestöber.
Im Schoß der Fahrgäste lagen Kinder-
trompeten, schlafende Patentpuppen, Selbst-
binder, elektrische Bügeleisen und eine Kom-
panie bleierner Infanterie.
Dazwischen saßen etliche, die nichts als ihre
Hände in die Taschen zu stecken hatten, blnd
ihr Blick verglich vorstellend den Preis mit
dem Wunsch.
„Eine Christbaumspitze mit Wachsjesulein
kostet..." rechnete die Frau des VerjicherungS-
agenten, an die Türe gepreßt, und versuchte
vergebens, die eisige Zuglust des Wagens in
die Wärme von drei Stück Briketts einzu-
wechseln.
Ein Herr im Pelzmantel zupfte vorsichtig
sein Paket mit Lebkuchen aus, um zu prüfen,
wieviel eS Schokoladeguß und Vanilleglasur
enthält.. . Augenblicklich roch es nach Nürn-
berg mit Burg und Dürerhaus.
Der Dame in der Seehundjacke hing spiele-
risch an jedem Glacefinger ein kleines Paket —
und da alle Aste ihrer Hand beseht waren,
dachte der Schaffner „...jetzt noch etwas
Engelshaar und Watte darüber, der Baum ist
komplett und das Christkind ist gekommen..."
Gedankenverloren zog er an der Wagenklingel,
um die Bescherung anzuläuten, und die Dahn
hielt aus offener Strecke .. .
„. . . kostet achtundsechzig Pfennig .. " hatte
die Frau, die den Christbaumspitz kaufen
wollte, inzwischen ausgerechnet, und zählte in
der Tasche ihr Geld durch Greifen nach. Noch
ein Dutzend Hinterhofköpse rechneten ihre
Weihnachtssehnsüchte kreuz und quer, zählten
zusammen, strichen, nahmen „eins" zu leihen
— und es wollte doch immer nur ein Lehr-
mädchengeschenk werden. . .
„Linie 23 ..." lernte ein Kleinrentner aus-
wendig vom beleuchteten Fahrtschild deS
Wagens ab, setzte das Wort „Pfennig" da-
zu — uyd hatte plötzlich die Meinung — der
ganze Trambahnwagen würde frisch aus einem
NippeS-Bazar fahren und 23s Pfennig gekostet
haben.
„. .. Eine Tafel Bruchschokolade kostet das
gleiche..." blnd daS „Kosten ... kosten . : :
kostet. .." fuhr kostenlos tausendfältig mit,
stieg ein und auS und war nicht parfümiert,
wie die nahe Verwandtschaft „Feinkost", die
nur im Auto fuhr ...
„Kleine, wenn du kein Geld hast, mußt
du ..." redete der Schaffner zu einem weizen-
blonden Mädchen, das eingestiegen war, als
er in Gedanken verloren die Wagenglocke als
Weihnachtsklingel gezogen hatte.
„. .. aussteigen ...!" sagte er nicht mehr,
und doch stand eS wie ein Schrei im Wagen,
den alle als einen Pfiff, der nicht gepfiffen
wurde, gehört hatten.
Berge
Berge sind heilig,
Schemel Gottes.
Hilfe kam immer
Gläubigen Völkern
Hoch von den Bergen.
Adler und Raben,
Weissagende Vögel,
Schweben um Berge,
Hilfeberatend.
Riesen entstiegen,
Felsgeborene,
Felsenrollende,
Zwerge, Hüter
Glühender Schätze
Ihrem Geklüft.
Bergentsprossene
Burgen wachen,
Wächter deS Tales.
bind da kommst du —
SpätgeboreneS,
Gottentfremdetes
Wichtlein
Mensch,
Lockerst Steine,
Schätze raubend,
Berge zerstörend.
Hüte dich!
Adler wachen,
Raben erheben Geschrei,
Riesen brauchen Gewalt,
Zwerge sinnen aus List,
Götter ahnden
Deine Schändung
An ihrem Werk.
Georg Schwarz.
Das Mädchen trug zwei Pakete unterm
Arm und die Hände waren blau, wie die
Flüsse auf Landkarten.
„Zwanzig Pfennig kostet der Fahrschein . ..!"
ries der Schaffner und der Herr im Pelz-
mantel roch in sein Lebkuchenpaket hinein, um
eine Verpflichtung zu überhören. Und die See-
hunddame ließ absichtlich den Karton Flieder-
seife zu Boden fallen, damit die „Zwanzig
Pfennig" gedämpfter ihr Ohr trafen.
„Also, ohne Fahrschein darf nicht..."
„...also, wenn ich dann nur die Christ-
baumspitze kaufe — ohne Wachsjesulein, dann
kann ich . ..", und die Frau des Versicherungs-
agenten drückte in dem Augenblick, da alle
Köpfe sich nach dem leuchtenden Stern von
Bethlehem einer Juwelierlichtreklame umbogen,
daS Fahrgeld in die blaueisigen Hände des
Mädchens.
Wäre in einem der vielen Pakete des
Wagens ein Geschenkthermometer verschnürt
gewesen, hätte es jetzt um etliche Grade in die
Höhe gehen müssen.
Der Pelzmantel wurde geöffnet wie ein
Garagentor und der Bauch deS Herrn fuhr
als Luxuslimousine daraus hervor.
„bind was hast du denn in den zwei Pa-
keten ...?"
„Heu und Stroh. . ." flüsterte eS weißgelb.
„Im Kopf jedenfalls...!" wieherte der
Pelz und trommelte auf feine Lebkuchen mit
Oblaten den Einzugsmarsch der Gladiatoren.
Die Agentenfrau rieb die gefrorenen Hände
deS Mädchens, in die sich die Paketschnüre
wie Peitschenhiebe eingekerbt hatten, zu rosa
Blüte auf — und im Wagen wurde eS um
tausend Kerzenstärken heller.
AuS den elektrischen Sicherungen sprangen
violette Blitze und überm Wagendach ertönte
eine leise Melodie, als wäre plötzlich die
Leitungsstange zur Grammophonnadel gewor-
den, die auf der bestimmten Platte des Him-
mels silberne Takte abspielt.
Alle Fahrgäste wurden gerührt wie Kuchen-
teig. Ein AuSgeher verteilte an Minder-
bemittelte Hustenbonbons. Die Eiüblumen am
Fenster wurden Palmenzweige und wedelten
in der Fahrtrichtung. Als der Schaffner den
nächsten Fahrschein abgeben wollte, wurde er
in seiner Hand zu einem Honigplätzchen. Sein
Bart wuchs in der Minute um Zentimeter —
bis in seine Tasche mit Kleingeld hinab.
„Ein Wunder...!" schrie eine Knopsloch-
näherin. blnd der Führer zog die Notbremse
— damit dieses Wunder nicht unter die Räder
komme.
Augenblicklich blühten im weizengelben Haar
des Mädchens haselnußgroße Sterne aus und
ein Fachmann ries: „Achtzehn Karat...!"
„Nächste Haltestelle Bethlehem...!" sang
der Schaffner selbstverständlich, als würde er
an dieser Station schon seit zwanzig Jahren
an halten.
Jäh wurden die Weihnachtsplakate über
den Wagensenstern lebendig und die Figuren
kletterten mit ihren angepriesenen Geschenken
an den Holzrahmen herab und verteilten sich,
wie ein Wohltätigkeitsbazar.
Da stieg kurz vor der Haltestelle der Kon-
trolleur in den fahrenden Wagen: „Fahrscheine
vorzeigen.. .!"
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