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mitzu-

Alle hielten aber Weihnachtsplätzchen in
Händen. Nur die feine Dame mit den Glace-
handschuhen und der Herr im Pelz zogen die
Scheine aus ihren Brillantringen ab. Der
Kontrolleur, der schon seit Jahren in seiner
Familie einen Weihnachtsbaum verboten hatte,
weil er ein aufgeklärter Mann war und alles
Mumpitz nannte, lächelte übereinstimmend.

„Alles andere raus aus dem Wagen...!"

„Es ist doch Heilige Nacht geworden...
Wunder sind geschehen... Sehen Sie doch
selbst, hier sitzt ein Engel...!"

„...der auch keinen ordnungsmäßigen Fahr-
schein besitzt. Da, das ist ja ein Heiligen-
bild ..."

„Tauet Himmel den Gerechten ..." sang
die hintere Plattform.

„Hausieren und Singen verboten . . . !"
brüllte der Kontrolleur.

„Haltestelle Bethlehem . . ." rief der
Schaffner.

„So — aber jetzt alles raus, was ohne
Fahrschein ist ... ! Nur die beiden Herr-
schaften dürfen weiterfahren . . ." und fuhren
über die Station Bethlehem, fuhren über
Weihnachten hinaus und am Wunder vorbei.

Der weizenblonde Engel öffnete beim AuS-
steigen feine Pakete und verteilte Heu und
Stroh.

Etliche warfen es als „Blödsinn" sogleich in
den Schnee. Die aber diese Zeichen von
Handwerksburschenarmut daheim inS Gezweig
ihrer Neunzigpfennigbäumchen hingen, erleb-
ten silberne und goldene Ströme und zogen sie
wie Most Ln den Flaschen ab.

Die Agentenfrau stampfte wie über Was-
sern durch den Schnee. Da
zupfte lsie etwas am Ärmel.

Der weizenblonde Engel hüpfte
neben ihr her, wie ein weißer
Pudel an der Leine.

„Magst mitgehen . . . ? Da
wird aber der Adolf Augen
machen .. . !"

Der Engel flatterte wie ein
Ventilator

„Friert's dich an die Flügel?"
fragte sie und sah, daß die feder-
weißen Schwingen zum Aus-
hängen eingerichtet waren — und
hob sie wie Winterfenster aus
den Angeln, steckte sie unter den
Mantel, und mit !der Alltags-
bemerkung: „ ... jetzt brauchst du
sie ja doch nicht — jetzt wirst du
ja doch nicht gleich fortfliegen?"
schritten sie wie auf Gummi-
absätzen an den Wänden der
Mietskasernen hin — — —

Adolf, der Versicherungsagent,
biß in der Wohnküche einem
Zündholz nach dem anderen den
roten Kopf ab, steckte sie in die
Apfel ein und band die Früchte
an den Zündholzstielen in die
Tannenzweige des fchiefgewachfe-
nen Christbaumes.

Als er leise zwei Paar Füße gegen die Düre
anschleichen hörte, holte er sofort die Versiche-
rungspolicen aus der Schublade hervor: „Viel-
leicht läßt sich eine Kundschaft als Weih-
nachtsgeschenk ihr Leben versichern?"

„Adolf, da schau her . . . !" rief ihm seine
Frau entgegen.

Er sah her, im Glauben — entweder einen
Kunden oder die Christbaumspitze zu schauen.

„Ein Enger! . . . ? Ich Hab doch gesagt,
daß wir eine Christbaumspitze brauchen ..."
sprach er enttäuscht.

Der Engel setzte sich aufs Kanapee und
blickte die Policen wie eine Hausaufgabe an.

„Wo kommt denn dies Engerl her .. . ?"

„Dom Himmel hoch, da komm' ich her ..."

„In der Trambahn Hab' ich ihn kennen-
gelernt ... in der Linie 23 ..."

„Soso... in der Trambahn. . . Und wie
wär's mit einer Lebensversicherung oder Un-
fall, Hagelschlag... ?" fragte er daS Engerl.

„Jetzt zünden wir zuerst den Baum an ...!"

Stearinkerzen tropften wie Freudentränen,
die Apfel bekamen rote Backen, die Zweige
wurden vibrierende Fingerspitzen und die nicht
vorhandene Christbaumspitze stieß strahlend
ein Loch in die Zimmerdecke ...

„...die erst frisch geweißt wurde...!"
brummte der Agent.

„Macht ja nichts... es ist ja Weihnach-
ten ... !" tröstete die Frau über den Schaden
hinweg und sah den Schein des Himmels wie
Regenwasser durch das Loch einbrechen.

Der Engel am Kanapee begann zu summen.

Und plötzlich begannen in den Goldrahmen
an der Wand die AmorS, BlaSengeleinS und

flötende Faune „Stille Nacht..."
singen . . .

„Nur nicht zu laut, sonst klopft der Haus-
herr mit der Schürhacke und beschwert sich .."

Draußen läuteten die Glocken durch die
Mitternacht.

„So schön hat's noch nie geklungen...!"
rief die Frau.

„Laß aber nur die Fenster zu, sonst fliegt
er davon... !"

„Geht nicht, ich Hab' die Flügel im Schirm-
ständer versteckt..." flüsterte die Frau beruhi-
gend dem Mann ins Dhr.

Inzwischen hatte das Engerl die Policen
ausgefüllt, überall „Mark" durchgestrichen und
das Ehepaar gegen allen irdischen Unfrieden
versichert und als Versicherungssumme himm-
lisches Wohlgefallen eingesetzt.

Der Agent schwankte vor Glück und Über-
raschung, daß er nicht zu versichern brauchte
— sondern versichert wurde. Er holte den
photographischen Apparat vom Kasten herab,
um die Blitzlichtaufnahme zu machen — wie
ein himmlischer Engel seine Policen ausfüllt.
DaS könnte ihm geschäftlich groß von Vorteil
sein ... !

Der Engel wurde in Positur gesetzt, das
Blitzlicht fauchte auf — und als der Rauch
sich verzog, sahen sie — daß auch der Engel
verschwunden und die Platte zersprungen war.

„Die Flügel im Schirmständer...!" schrie
die Frau, nahm sie wie zwei srischgestrichene
Haustüren untern Arm und rannte dem Engel
nach. — —

Und sah, wie die Erscheinung flügellos in
die erste morgendliche Trambahn einstieg . ..

„Die Flügel stiften wir als
Altartüren der Domkapelle..."
sprach Adolf.

Die Trambahn klingelte in der
Ferne, wurde wieder näher, bis
die Glocke über ihrem Kopf
hing . . .

Der Ärmel des Schaffners
streifte Schneeflocken ins' Gesicht
der Agentenfrau.

„Aussteigen .. . ! Teilstrecke ist
abgelaufen . . . Wenn der Kon-
trolleur kommt...!" — — —
. . . Bruchstückweise erwachte
sie, hielt noch daS Kleingeld kalt
in der Hand, das sie dem weizen-
blonden Englein gegeben hatte. ..,
stieg »unsicher aus und wankte
der Auslage zu, wo die Christ-
baumspitze mit dem WachSjesu-
lein aus Watte gebettet lag ...

Da trat sie ein und kaufte daS
Wunder für achtundsechzig Pfen-
nige —

Vom Himmel schauten ein
paar Sterne mit großen, hung-
rigen Augen aus das festlich weiße
Tischtuch der Erde herab, über
das die Agentenfrau heim — Z"
ihrer Nacht trippelte, die still und
heilig war — — —

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Fritz Richter: Die heiligen 3 Könige
 
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