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hält. Man wähle sich ein Gemälde, vorzugs-
weise ein solches gegenüber einer Bank in der
Mitte des Saales, und gehe an ihm einige
Minuten hin und her. Dann ziehe man sich
von ihm zurück, sehe sich und betrachte das
Bild lange rnit einem geschlossenen Auge. Dies
wird die Aufseher davon überzeugen, daß Sie
wissen, worauf es ankommt, und sie werden
weiterwandern, um jemand andern anzustarren.
Dann schließe man das andere Augtz und be-
trachte so daS Bild. Schließlich wird man
hierbei beide Augen geschlossen halten und erst
durch die Mitteilung des Aufsehers, daß es
fünf Uhr nachmittags und Zeit, nach Hause zu
gehen, geworden ist, in die rauhe Wirklichkeit
zurückverseht werden.

Eine solche Taktik geht freilich
in einem historischen Museum nicht
an. Fürs erste gibt eS dort nur
sehr wenige Bänke und die Stühle
sind gewöhnlich Sehenswürdig-
keiten und demnach durch Stricke
vom Publikum abgesperrt. Auch
enthält ein historisches Museum
eine gewaltige Zahl kleiner Objekte
in Glaskästen und, um sie alle zu
sehen, muß man von Saal zu
Saal stürmen. Die interessantesten
Schaustücke befinden sich gewöhn-
lich im untersten Fach.

Auf allen Vieren und den Kops
zur Seite biegend, kann man dann
vielleicht aus einer in winzigen
Lettern gedruckten Aufschrift erfah-
ren, daß man einen „Thüringischen
Kochlöffel auS dem fünfzehnten
Jahrhundert — Schenkung Fräu-
lein Klementine blndanks" — in
Augenschein nimmt, bind während
inan so kauert und darüber nach-
denkt, wie Fräulein Undank zu
einem thüringischen Kochlöffel kam,
ist eS nicht unwahrscheinlich, daß
jemand, sich von dem Gobelin an
der gegenüberliegenden Wand weg-
wendend, über die Füße des an-
dächtigen Beschauers strauchelt und
dein verblüfften Aufseher den Ein-
druck vermittelt, man wolle im
Olt 3 u t z Museum allerlei unziemliche Späße
treiben.

Zu solchen Erkenntnissen gelangte ich, als
ich mit Tante Agnes Londons Museen durch-
streifte. Nachdem sie sie ebenso wie mich er-
schöpft hatte, war ich überzeugt, daß ihre
MufeumSbegeisterung einfach auf die natür-
liche Zuneigung von Altertümern zu Alter-
tümern zurückzuführen sei.

Nun sagt man mir, daß die jüngere Gene-
ration der Vergangenheit weit weniger Ver-
ehrung entgegenbringt, und ich blicke daher zu-
versichtlich dem Besuche der achtzehnjährigen
Nichte meiner Frau, Kitty, entgegen, die näch-
sten Monat nach London kommt, blnter einer
Antiquität stellt sich Kitty einen Hut vor, der
älter als sechs Wochen ist, und unter einem
Kupferstich versteht sie irgendeine ihr unbe-
kannte Art von weiblicher Handarbeit.

Juliens u:urdi^(ceite

starren didi

an :

Als ich unlängst auf dem Bahnhof Tante
AgneS, die für acht Tage aus der Provinz zu
uns nach London gekommen war, Abschieds-
grüße zuwinkte, war ich von ihrem Aufenthalt
allzu erschöpft, um auch nur einen Seufzer der
Erleichterung auszustoßen. Denn ^ante AgneS
gehörte zu jener Art von Besuchen, die fest
entschlossen sind, in der Großstadt etwas für
ihre Bildung zu tun, und zu diesem
Zwecke mit einem festgefügten
Programm ankommen. „Wir kön-
nen nur soundso lange in London
bleiben", erklären sie sogleich, „und
wir haben uns eine Liste der
Sehenswürdigkeiten aufgesetzt, die
wir unbedingt erledigen wollen."

Der durchschnittliche Großstädter
empfindet zunächst ein Gefühl deS
Stolzes, die Wunder der Großstadt
jemandem vorführen zu dürfen, der
sie nie gesehen hat, und während
der ersten zwei Stunden oder viel-
leicht auch ein wenig länger kann
er sie mit blnschuldSaugen betrach-
ten und das Entzücken seines
Gastes bei jeder neuen Sensation
teilen. Aber dann beginnen ihm die
Füße weh zu tun und er wird sich
eines dumpfen Schmerzes zwischen
den Schulterblättern bewußt, lllnd
schließlich schlägt er „ein ruhiges,
kleines Lokal, wo man ungestört
sitzen und gemütlich plaudern
kann", vor.

Doch dieser Vorschlag wird
kaum je mit Begeisterung ausge-
nommen, da die Leute nicht auS
der Provinz nach London kommen,
um sich ein ruhiges, kleines Lokal,
wo nian ungestört sitzen und ge-
mütlich plaudern kann, anzusehen.

Die Provinz hat keinen Mangel an
ruhigen, kleinen Lokalen und auch
nicht an gemütlichen Plaudereien.

Als Tante Agnes uns vergangene Woche
besuchte, zeigten wir ihr daher die Bank von
England, den Zoo, das Parlament, die Schrek-
kenSkammer, das neue Gebäude von Scotland
Pard und das Hundehotel in Battersea. Aber
nichts davon machte auf Tante Agnes Ein-
druck. Sie wollte etwas für ihre Bildung tun.
So verbrachten wir einen halben Tag im
Britischen Museum und einen halben Tag im
Naturhistorischen Museum in South Ken-
sington.

DaS, so dachte ich, während ich am Abend
meine Füße in Sodawasser badete, sollte ihr
genügen. Aber eS genügte durchaus nicht. Ihr
MufemnSappetit war erst erwacht. So ging
ich am nächsten Tag mit ihr inS WeltkriegS-
mufeum und in die Victoria- und Albert-AuS-
stellung. Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß
es in London so viele Museen gebe — und

Tante AgneS entdeckte fortwährend neue und
solche ganz spezieller Art. Es hätte mich nicht
überrascht, plötzlich von einem Museum zu er-
fahren, das ausschließlich der Schaustellung
britischer Eisenbahnfahrkarten oder von Rasier-
pinseln berühmter Ncänner gewidmet .gewesen
wäre.

DaS ideale Museum müßte ein großes, gut
gelüftetes Gebäude mit teppichbelegten Fuß-
böden, zahlreichen bequemen Stühlen, nur
wenigen Schaustücken und überhaupt keinen
Aufsehern fein. Denn diese haben es mir be-
sonders angetan. Welcher Art das Museum
auch immer sein mag, stets bin ich m.r ihrer
lauernden Gegenwart bewußt und stets sinne ich
darüber nach, woran diese ernst dreinblickenden

Männer wohl denken mögen — und insbeson-
dere, was sie über mich denken. Außerhalb
des Museums mag ich noch so unbefangen
und heiter sein, aber sobald ich eingetreten bin,
geht mit mir angesichts der Aufseher sofort
eine Veränderung vor.

Mein ehrlicher, kurzsichtiger Blick wird
scheu und unstet und meine zielbewußten
Schritte werden zu einem furchtsamen Schleichen.
Ich lasse meinen steifen Hut fallen und er
springt über den parkettierten Fußboden mit
einer Reihe von Plumpsen dahin, die wie ein
Salut von einundzwanzig Kanonen klingen.
Meine Schuhe, die bis dahin schweigsame
Dinger gewesen sind, entwickeln ein aufreizen-
des -Quietschen.

In einigen der größeren Kunstgalerien ist es
möglich, der Aufmerksamkeit der Aufseher zu
entgehen, indem man sich wie ein Kenner ver-


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Register
Adolf Jutz: Porträtstudie
John K. Newnham: Sehenswürdigkeiten starren dich an
 
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