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J U

40. JAHRGANG

G E N D

1 9 3 5 / N r. 3

SCHMERZEN

Q)on (?)

ermann

A

Schmerz ist ein Meister der uns klein macht,
Ein Feuer das uns ärmer brennt,

Das uns vom eigenen Leben trennt,

Das uns umlodert und allein macht.

Weisheit und Liebe werden klein,

Frost wird und Hoffnung dünn und flüchtig;
Schmerz liebt uns wild und eifersüchtig.
Wir schmelzen hin und werden Sein.

Es krümmt die irdne Form, das Ich,

Und wehrt und sträubt sich in denFlammen.
Dann sinkt sie still in Staub zusammen
Und überläßt dem Meister sich.

D II )E IR IUI IE II N IR IE II 8 IE

VON BRUNO BREHM

Ende Juni 1914r als der junge Stolpe IN Lund seine Reifeprüfung
abgelegt hatte und nun den ersten frohen Ferientagen zwischen Gym-
nastum und Hochschule entgegensah, sagte Stolpe sen., Professor an
der Hochschule in Lund, zu seinem Sohne: „Ich habe in Halle und in
Jena Volkswirtschaft studiert und ich dächte, es wäre ganz schön, wenn
,du nun auch einmal mit mir nach Deutschland kämst und mit mir dir
dort alles ansähest, blnsere Familie ist damals, als Pommern noch zu
Schweden gehörte, herübergekommen. Wir sind zwar in dieser langen
Zeit ordentliche Schweden geworden, aber dein Stammland sollst du
auch kennen lernen. Wir werden nach Stargard fahren, dort leben
noch einige StolpeS, die können wir besuchen. Benimm dich ordentlich,
daß du einen anständigen Eindruck machst und damit die in Stargard
nicht glauben, die StolpeS seien in Schweden Eisbären geworden, bind
wenn wir dort unsere Besuche alle gemacht und noch ein wenig in den
Kirchenbüchern geblättert haben, dann fahren wir zum Rhein und
machen eine ordentliche Rheinreise mit allem drum und dran."

Da freute sich der junge Stolpe, denn eS schien,ihm nicht angenehm,
in diesem Zwitterzustand zwischen Gymnasium und Hochschule die
Ferien im Lande selbst zu verbringen. Nach Greifswald wollte ja der
Vater auch fahren, denn dort waren im achtzehnten Jahrhundert zwei
Stolpes blniversitätSprofesforen gewesen. Die Reise war also be-
schloß en. Frau Stolpe rüstete ihre beiden Männer gehörig aus, er-
mahnte den Vater, auf den Sohn auszupassen und schärfte dem Sohn
ein, immer mit der Zerstreutheit des Vaters zu rechnen, blnd dann
fuhren, während Frau Stolpe für ihre drei Töchter alles zu der Bade-
reise nach Nordschweden richtete, die beiden Männer loö.

Seit es diese Fähre von Trälleborg nach Saßnitz gibt, ist es das
Erste, was die Schweden tun, wenn sie die Schiffsplanken betreten,
daß sie sich den Hut aus der Stirn rücken und ihn ein wenig schief
aufsetzen. Denn diese Fähre ist ja schon halbes Ausland und im Aus-
land darf man flotter sein als in Schweden, ist man nicht zu stetem
Ernst verpflichtet, kann sich etwas gehen lassen, muß nicht steif und
gerade gehen, denn im Ausland wacht niemand über die stete Vortreff-
lichkeit und das gute Benehmen, im Ausland kennt nicht jeder jeden
und von solch freierer Luft ist eben auf der Fähre der erste Hauch zu
verspüren. Vater und Sohn genossen in gleichen Zügen diese will-
kommene Freiheit und der junge Christian konnte sich gar nicht genug

wundern, wie rasch der Vater auftaute. Da stand er, beugte sich über
das Geländer, sah den schwirrenden und kreischenden Möven zu und
begann auf einmal die alten, längst vergessen geglaubten Studenten-
lieder zu singen, die er einst in Halle und in Jena gesungen hatte.
Da wurde der sonst so ernste Professor, der sich daheim, wenn er von
seiner Familie nicht gestört sein wollte, ein Zündholz durch das Knopf-
loch des Rockumschlages gesteckt hatte, auf einmal gesprächig und
begann von seinen heiteren Jugendtagen dort unten im Süden zu er-
zählen. Sein weißer Haarschopf und sein grauer Knebelbart umrahmten
auf einmal ein übermütiges Jungengesicht und der junge Christian kam
sich neben seinem singenden und summenden Vater so recht wie ein
alter verdrossener Mann vor. „Warte nur, Jungchen", sagte der alte
Herr, „du sollst mir da unten auch noch gehörig auftauen! blnd was
Halle nicht kann, das wird der Rhein vollbringen. Ach, hin und wieder
ist eS doch gut, sich auSzulüften und ein wenig andere Luft zu schnappen.

Ja, und so blieb der alte Herr auf der ganzen Fahrt, so blieb er
auch, als die beiden in Saßnitz auöstiegen. Er tut rein so, der Vater,
dachte sich der Herr Sohn, als ob er hier in Deutschland daheim wäre!
Wie er sich auskennt, wie gut er sich an alles erinnern kann!

Aber auch dem alten Herrn war es gar nicht anders zumute, als
hätte er gerade erst vor ein paar Tagen und nicht vor so und soviel
langen Jahren zum letzten Male den Fuß auf deutschen Boden gesetzt.

Also fuhren sie nach Stargard. Auf leisen Sohlen, als könnten sie
etwas aus dem Schlafe wecken, was es in Schweden schon gar nicht
mehr gab, umschritten Vater und Sohn die große Marienkirche, gingen
die beiden über den weiträumigen Marktplatz, blieben sie vor den Gast-
höfen stehen und kamen sich nicht anders vor, als wanderten jie durch
ein altes Bilderbuch, das sie in einer heimlichen Stunde auSgekramt und
ausgeschlagen hatten.

„Ein seltsames Land", sagte der Herr Professor, „dieses Deutsch-
land. Wie wunderbar, daß es neben Hamburg und Berlin, neben der
Ruhrindustrie und ihren Hochöfen noch so etwas gibt. Siehst du,
Christian, bei uns in Schweden ist schon zuviel Amerika! Wir haben
zuviel fremde Luft in unser Land gelassen. Welche Wohltat, so auf
einmal in ein ganz anderes Jahrhundert zu treten."

Dann machten die beiden StolpeS also bei den Tanten, die sie aus-
gekundschaftet hatten, in aller Förmlichkeit und Wohlerzogenheit, wie

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Hermann Hesse: Schmerzen
Bruno Brehm: Die Rheinreise
 
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