ID II IE EINIGUNG
VON HANS GRAVEN
Hermann Lamerdin bewohnt mit seiner
jungen Frau Lore eine kleine Drei-Zimmer-
Wohnung im Dachgeschoß eines der großen
und neuerbauten Wohnblocks. Sie wohnen
zufrieden dort, weit vor der Stadt. Auf den
Wiesen vor ihren winzigen Fenstern weiden
vom Sommer bis spät in den Herbst riesige
Schafherden, und die Schäferkarren stehen oft
zum Greifen nahe vor der HauStüre. Nur
die braune Straßenbahn erinnert daran, daß
die Großstadt nahe ist, aber die Bäume
rauschen dazwischen viel stärker und kräftiger,
und der Wind weht klar und herrlich vom
Gebirge herüber.
Manchmal leuchtet eS so blau in die Fen-
ster, daß man wie schwindlig wird und un-
gläubig hinausstarrt, wie man als Kind
Theaterdekorationen am Tag bewunderte.
Die Wände in den drei Zimmern sind schief,
aber beim flüchtigen Betrachten sieht man daS
nicht; denn diese drei Zimmer sind mit einer
traumwandlerischen Sicherheit des Geschmacks
eingerichtet. Den heller blau getünchten Wän-
den entsprechen die Vorhänge, die grau-blau
getönten Bezugstoffe der ungeheuren Couch,
jedes einzelnen Stuhles; ja selbst die Bücher,
und daS sonst doch unbestechliche Reise-Gram-
mophon scheinen auf diese milde und gepflegte
Luft Rücksicht zu nehmen.
Hermann Lamerdin aber ist kein Traum-
wandler. Er ist Privatdozent an der üni-
versität drinnen in der Stadt, ein ehrlicher,
ein verbissener Arbeiter, von Liebe zu seinem
Beruf erfüllt, dem eines Chemikers. So ist
auch die Atmosphäre der kleinen Wohnung
durchaus das Ergebnis fast . wissenschaftlicher
Überlegungen und formvollendeter Gespräche
zwischen Lore und Hermann Lamerdin. Nur
manchmal platzt irgendwo in Lore ein Tempe-
raments-Äderchen, und dann ergießt sich in die
ruhevollen Räume ein etwas ungehemmter
Strom von lange angesammelten, sich über-
stürzenden Worten, Sätzen, verführerischen
Vorschlägen und revolutionären Erklärungen.
Mit einem einzigen kurzen Schlag der flachen
Hand auf die Lehne seines Stuhles aber
dämmt Hermann diese Flut ein.
„Aber Loa, du weißt doch, daß wir sparen
müssen, und daß ich nichts mehr haste als
Schulden!" sagt er dazu beispielsweise, und es
klingt vorwurfsvoll. Loa, wie er seine Frau
nennt, schweigt dann, beschämt wie ein Kind,
und bekommt traurige Augen.
Hermann aber muß wirklich sparen. Es ist
ganz richtig, was er sagt, und wie in der
kleinen Wohnung der beiden jedes Ding seinen
scheinbar von seiner Schöpfung an sorgfältig
vorbestimmten Platz hat, so auch jede Mark
und jeder Pfennig in dem kleinen Budget.
Auf einem alten Fahrrad fährt Hermann
Morgen für Morgen in das chemische Uni-
versitäts-Institut. Das Rad ist so alt, daß es
bei jedermann Kopfschütteln erregt. Da Her-
mann sehr groß ist, reckt sich der winzige
Sattel allein und seltsam in die Luft, während
die Lenkstange sich mitleiderregend nach unten
neigt.
Über Mittag bleibt Hermann stets in der
Stadt. In den zwei Jahren seiner Ehe hat
er eine Methode herausgefunden, die es ihnen
gestattet, ohne großen Aufwand an Zeit und
Geld daS Mittagesten mit dem Abendessen des
vorhergehenden TageS in produktiver Weife
zu verbinden. So gibt ihm Loa täglich in der
Frühe einen — absichtlich übriggebliebenen! —
Teil des abendlichen EstenS als Mittag-
esten mit.
Hermann liebt seine Frau aufrichtig und
einfach, vielleicht auch ein wenig pedantisch.
Manchmal, am Abend, kommt er zu ihr, wenn
sie von der Hausarbeit müde auf der Couch
liegt und in einem Buch mit Bildern von alten
deutschen Domen herumblättert. Er läßt sich
langsam auf den Teppich nieder, legt den
Kops auf den Couchrand und sieht sie lange
an. Dann sinkt daS Buch in den Schoß und
Loa lächelt.
„Bist du heute wieder recht müde, armer
Fritz?" sagt sie mit ihrer sanften, braunen
Stimme, und „hat dir der Reis heute mittag
geschmeckt?"
Hermann ist dann sehr traurig, wenn er
Lore so sanft und müde sprechen hört, und er
schüttelt als Antwort den Kopf.
Dann denken sie aber beide gleich weiter,
daß sie ja viel, viel mehr noch zu wünschen
haben, und daß dieser eine Wunsch wohl noch
lange auf Erfüllung warten müsse. Viele an-
dere kommen noch vorher. Die Lampe mit
dem echten Pergamentschirm für den Schreib-
tisch vom guten Fritz zum Beispiel, und der
weinrote Sessel für die rechte Eche im Speise-
38
VON HANS GRAVEN
Hermann Lamerdin bewohnt mit seiner
jungen Frau Lore eine kleine Drei-Zimmer-
Wohnung im Dachgeschoß eines der großen
und neuerbauten Wohnblocks. Sie wohnen
zufrieden dort, weit vor der Stadt. Auf den
Wiesen vor ihren winzigen Fenstern weiden
vom Sommer bis spät in den Herbst riesige
Schafherden, und die Schäferkarren stehen oft
zum Greifen nahe vor der HauStüre. Nur
die braune Straßenbahn erinnert daran, daß
die Großstadt nahe ist, aber die Bäume
rauschen dazwischen viel stärker und kräftiger,
und der Wind weht klar und herrlich vom
Gebirge herüber.
Manchmal leuchtet eS so blau in die Fen-
ster, daß man wie schwindlig wird und un-
gläubig hinausstarrt, wie man als Kind
Theaterdekorationen am Tag bewunderte.
Die Wände in den drei Zimmern sind schief,
aber beim flüchtigen Betrachten sieht man daS
nicht; denn diese drei Zimmer sind mit einer
traumwandlerischen Sicherheit des Geschmacks
eingerichtet. Den heller blau getünchten Wän-
den entsprechen die Vorhänge, die grau-blau
getönten Bezugstoffe der ungeheuren Couch,
jedes einzelnen Stuhles; ja selbst die Bücher,
und daS sonst doch unbestechliche Reise-Gram-
mophon scheinen auf diese milde und gepflegte
Luft Rücksicht zu nehmen.
Hermann Lamerdin aber ist kein Traum-
wandler. Er ist Privatdozent an der üni-
versität drinnen in der Stadt, ein ehrlicher,
ein verbissener Arbeiter, von Liebe zu seinem
Beruf erfüllt, dem eines Chemikers. So ist
auch die Atmosphäre der kleinen Wohnung
durchaus das Ergebnis fast . wissenschaftlicher
Überlegungen und formvollendeter Gespräche
zwischen Lore und Hermann Lamerdin. Nur
manchmal platzt irgendwo in Lore ein Tempe-
raments-Äderchen, und dann ergießt sich in die
ruhevollen Räume ein etwas ungehemmter
Strom von lange angesammelten, sich über-
stürzenden Worten, Sätzen, verführerischen
Vorschlägen und revolutionären Erklärungen.
Mit einem einzigen kurzen Schlag der flachen
Hand auf die Lehne seines Stuhles aber
dämmt Hermann diese Flut ein.
„Aber Loa, du weißt doch, daß wir sparen
müssen, und daß ich nichts mehr haste als
Schulden!" sagt er dazu beispielsweise, und es
klingt vorwurfsvoll. Loa, wie er seine Frau
nennt, schweigt dann, beschämt wie ein Kind,
und bekommt traurige Augen.
Hermann aber muß wirklich sparen. Es ist
ganz richtig, was er sagt, und wie in der
kleinen Wohnung der beiden jedes Ding seinen
scheinbar von seiner Schöpfung an sorgfältig
vorbestimmten Platz hat, so auch jede Mark
und jeder Pfennig in dem kleinen Budget.
Auf einem alten Fahrrad fährt Hermann
Morgen für Morgen in das chemische Uni-
versitäts-Institut. Das Rad ist so alt, daß es
bei jedermann Kopfschütteln erregt. Da Her-
mann sehr groß ist, reckt sich der winzige
Sattel allein und seltsam in die Luft, während
die Lenkstange sich mitleiderregend nach unten
neigt.
Über Mittag bleibt Hermann stets in der
Stadt. In den zwei Jahren seiner Ehe hat
er eine Methode herausgefunden, die es ihnen
gestattet, ohne großen Aufwand an Zeit und
Geld daS Mittagesten mit dem Abendessen des
vorhergehenden TageS in produktiver Weife
zu verbinden. So gibt ihm Loa täglich in der
Frühe einen — absichtlich übriggebliebenen! —
Teil des abendlichen EstenS als Mittag-
esten mit.
Hermann liebt seine Frau aufrichtig und
einfach, vielleicht auch ein wenig pedantisch.
Manchmal, am Abend, kommt er zu ihr, wenn
sie von der Hausarbeit müde auf der Couch
liegt und in einem Buch mit Bildern von alten
deutschen Domen herumblättert. Er läßt sich
langsam auf den Teppich nieder, legt den
Kops auf den Couchrand und sieht sie lange
an. Dann sinkt daS Buch in den Schoß und
Loa lächelt.
„Bist du heute wieder recht müde, armer
Fritz?" sagt sie mit ihrer sanften, braunen
Stimme, und „hat dir der Reis heute mittag
geschmeckt?"
Hermann ist dann sehr traurig, wenn er
Lore so sanft und müde sprechen hört, und er
schüttelt als Antwort den Kopf.
Dann denken sie aber beide gleich weiter,
daß sie ja viel, viel mehr noch zu wünschen
haben, und daß dieser eine Wunsch wohl noch
lange auf Erfüllung warten müsse. Viele an-
dere kommen noch vorher. Die Lampe mit
dem echten Pergamentschirm für den Schreib-
tisch vom guten Fritz zum Beispiel, und der
weinrote Sessel für die rechte Eche im Speise-
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