ROLF MAYR:
DIE TUGENDWÄCHTERIN
Als Goya nach Zaragoza kam, fand er, daß
eS eine herrliche Stadt fei, saftig und erfrischend
wie eine Apfelsine, wenn inan sie paekt, die
Schale aufbeißt und in langen Zügen austrinkt.
Dazu hatte er die großen faßlichen Hände,
einen gierigen Mund und ein heißes Herz, das
oft der Kühlung bedurfte.
Gleich nach seiner Ankunft im Hause deS
Luzan Martinez, seines Lehrmeisters, begann
er die Stadt auf seine Weise zu erobern. Als
Schlafraum wurde ihm eine Dachstube zuge-
wiesen. Eines Morgens erhob er sich von
seinem Strohlager und schob die gelbe Decke
beiseite, die ihm bei schlechtem Wetter auch
als Mantel diente, stieß die Dachlucke auf und
beugte sich hinaus, um die kühle Luft zu atmen,
die vom Ebro her in die Stadt heraufdampfte
wie in eine Waschküche.
Dabei gewahrte er im HauS gegenüber ein
hübsches fchivarzlockigeS Mädchen, das auf
dem Fensterbrett stand und die Scheiben putzte.
Wenn eS jich bückte, um den Schwamm in
der Schüße! voll grauen Wassers aufs neue
zu netzen, konnte er die schöngebildeten nackten
Beine bis zum Knie sehen, denn das Mädchen
hatte das Kleid hochgeschürzt und dünkte sich
unbeobachtet. Goya verliebte sich stracks in
diese Beine, die wie gut gefugte Spangenhälften
aneinanderstanden, und selbstverständlich auch
in das ganze dazugehörige liebliche Wesen. Er
wünschte eS kennen zu lernen. Leider fehlte ihm,
weil er arm war, eine Caja de suspiros, die
Seufzerschachtel, wie er die Gitarre nannte;
sie wäre das einfachste Mittel gewesen, seinem
Wunsch klingende Flügel zu verleihen.
So schrie er einfach „Heda"! hinüber. Dann
lachte er stillvergnügt und stützte das Kinn auf
die Arme, die auf den Dachziegeln lagen. Bon
seinem Ruf aufgescheucht, stoben einige Dauben
hoch wie ein blaues sausendes Feuerwerk.
„WaS erschreckst du mich so, du Lümmel?"
schalt das Mädchen zornig herüber; „beinahe
wäre ich auf die Gasse gefallen."
„Aber die Engel hätten dich aufgefangen",
erwiderte Goya, denn er lebte anfangs ganz
in der biblischen Welt, die sein Meister malte,
und übertrug sie auch in seine AlltagSrede.
„Du Faselhans!" sagte das Mädchen, und
als eS sich wieder beruhigt hatte: „Wie heißt
du denn eigentlich?"
„Ich heiße Francisco", antwortete Goya;
„und du?"
„Ich?" fragte daS Mädchen und überlegte
eine Weile, ob eS dem Rüpel überhaupt er-
widern sollte; schließlich sagte eS: „Ich heiße
Consuelo."
„Fein!" bemerkte Goya; „ein schöner Name.
Ich habe zuhause eine Schwester, die heißt
auch so."
„Woher kommst du denn?" fragte Consuelo
weiter und preßte den Schwamm über der
(=>Die C^3riejwaage
im (jJosiami
Von Peter Scher
Ich stehe oft am Schalter
und seh mir an, was vor sich geht;
manchmal erscheint ein Alter,
der sinnend vor der Waage steht.
Auf runzligem Gesichte
seh ich ein Lächeln, gut und still;
ob er die Brief gewichte
noch einmal kontrollieren will?
Kein, anderes tritt zu Lage,
enthüllt von meinem Wissensdurst;
was legt er auf die Waage?
Ein Päckchen aufgeschnittne Wurst.
Er prüft und freut sich dessen —
es wird ja wohl sein Frühstück sein,
vielleicht sein Mittagessen —
es stimmt genau, er packt es ein.
Die Waage wägt ganz sachte,
sie fühlt sich amtlich zwar bedrückt,
doch das Erlebnis brachte
ihr jenen Aufschwung, der beglückt.
Gasse aus. Ein alter Herr mit einem hecht-
grauen Zylinder, der unten vorbeiging, spürte
plötzlich, wie ihm das Wasser auf den Hut
trommelte und vorne über die Krempe tröpfelte,
als stünde er unter einer schadhaften Dach-
rinne. Er blickte nach oben, sah aber nichts,
hob die Fäuste und fluchte inS Blaue hinein.
„Fuendetodos ist meine Heimat", sagte Goya;
„und die deinige?"
„Zaragoza", sagte Consuelo, „ich stamme
aus Zaragoza und bin in San Pablo getauft
worden."
„Mit Wasser oder mit Wein?" fragte Goya.
„Pfui!" erwiderte Consuelo. „Wie kannst
du nur so reden?" —
Und so plapperten sie noch eine Weile fort,
bis Consuelo mit ihrem Fenster endlich fertig
war. Sie stieg dann auf einen Stuhl und
vom Stuhl zu Boden und verschwand plötzlich
in der Tiefe des Zimmers, als wären die
Dielen durchgebrochen.
Goya dachte zuerst an einen Scherz. Er
verhielt sich still und schwieg. Danach wurde
er ungeduldig und schrie laut und lauter: „Con-
suelo, hör mal! So hör doch, ich habe dir
noch etwas zu sagen!"
Nun tauchte das Mädchen wieder hinter
dem Fensterbrett auf, versteckte sich aber so-
gleich wieder. Francisco begriff, daß sie ihn
necken wollte. Er holte seine Arme herein und
duckte sich gleichfalls. Als er wieder auftauchte,
wippte das Mädchen hinab und so ging das
muntere Wechselspiel eine Zeitlang fort. Wenn
sie einmal zugleich aus der Versenkung kamen,
scholl ihr Lachen hin und her, bis sich Goya
entschloß, länger als vorher im Versteck zu
bleiben und wenn Consuelo glauben mochte,
nun sei er ganz verschwunden, wollte er wieder
emporschnellen und sehen, ob ihr Gesicht gleich-
gültig oder traurig wäre. Daran wollte er
ermessen, wie es um ihren Sinn bestellt sei.
Consuelos Mutter aber, eine biedere
Bäckersfrau, war sehr ergrimmt, daß ihre
Tochter solange an einem einzigen Fenster fege,
trat leise ins Zimmer, sah daS Spiel, riß
Consuelo fort, schob sie ins Treppenhaus und
versperrte die Türe. Dann schlich sie selbst ans
Fenster, stieg auf den Stuhl und um Francisco
eine nachdrückliche Lehre zu erteilen und ihn
ein für allemal von einem Angriff auf Con-
suelos Tugend abzuschrecken, drehte sie sich
um, hob die Röcke hoch und zeigte dem nun
strahlend auftauchenden Francisco ihr ziemlich
umfangreiches zweites Gesicht.
Goyas Herz gefror. Seine Wangen wurden
fahl. Entsetzt wich er zurück und schlug die
Hand wie geblendet vor die Augen.
Nie mehr scherzte er mit Consuelo und blieb
auch finster, wenn sie ihm zulächelte, um ihm
zu zeigen, wie wohlgesinnt sie ihm sei; denn er
hatte ihr falsches und trügerisches Herz er-
kannt. . . . - - • ~
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DIE TUGENDWÄCHTERIN
Als Goya nach Zaragoza kam, fand er, daß
eS eine herrliche Stadt fei, saftig und erfrischend
wie eine Apfelsine, wenn inan sie paekt, die
Schale aufbeißt und in langen Zügen austrinkt.
Dazu hatte er die großen faßlichen Hände,
einen gierigen Mund und ein heißes Herz, das
oft der Kühlung bedurfte.
Gleich nach seiner Ankunft im Hause deS
Luzan Martinez, seines Lehrmeisters, begann
er die Stadt auf seine Weise zu erobern. Als
Schlafraum wurde ihm eine Dachstube zuge-
wiesen. Eines Morgens erhob er sich von
seinem Strohlager und schob die gelbe Decke
beiseite, die ihm bei schlechtem Wetter auch
als Mantel diente, stieß die Dachlucke auf und
beugte sich hinaus, um die kühle Luft zu atmen,
die vom Ebro her in die Stadt heraufdampfte
wie in eine Waschküche.
Dabei gewahrte er im HauS gegenüber ein
hübsches fchivarzlockigeS Mädchen, das auf
dem Fensterbrett stand und die Scheiben putzte.
Wenn eS jich bückte, um den Schwamm in
der Schüße! voll grauen Wassers aufs neue
zu netzen, konnte er die schöngebildeten nackten
Beine bis zum Knie sehen, denn das Mädchen
hatte das Kleid hochgeschürzt und dünkte sich
unbeobachtet. Goya verliebte sich stracks in
diese Beine, die wie gut gefugte Spangenhälften
aneinanderstanden, und selbstverständlich auch
in das ganze dazugehörige liebliche Wesen. Er
wünschte eS kennen zu lernen. Leider fehlte ihm,
weil er arm war, eine Caja de suspiros, die
Seufzerschachtel, wie er die Gitarre nannte;
sie wäre das einfachste Mittel gewesen, seinem
Wunsch klingende Flügel zu verleihen.
So schrie er einfach „Heda"! hinüber. Dann
lachte er stillvergnügt und stützte das Kinn auf
die Arme, die auf den Dachziegeln lagen. Bon
seinem Ruf aufgescheucht, stoben einige Dauben
hoch wie ein blaues sausendes Feuerwerk.
„WaS erschreckst du mich so, du Lümmel?"
schalt das Mädchen zornig herüber; „beinahe
wäre ich auf die Gasse gefallen."
„Aber die Engel hätten dich aufgefangen",
erwiderte Goya, denn er lebte anfangs ganz
in der biblischen Welt, die sein Meister malte,
und übertrug sie auch in seine AlltagSrede.
„Du Faselhans!" sagte das Mädchen, und
als eS sich wieder beruhigt hatte: „Wie heißt
du denn eigentlich?"
„Ich heiße Francisco", antwortete Goya;
„und du?"
„Ich?" fragte daS Mädchen und überlegte
eine Weile, ob eS dem Rüpel überhaupt er-
widern sollte; schließlich sagte eS: „Ich heiße
Consuelo."
„Fein!" bemerkte Goya; „ein schöner Name.
Ich habe zuhause eine Schwester, die heißt
auch so."
„Woher kommst du denn?" fragte Consuelo
weiter und preßte den Schwamm über der
(=>Die C^3riejwaage
im (jJosiami
Von Peter Scher
Ich stehe oft am Schalter
und seh mir an, was vor sich geht;
manchmal erscheint ein Alter,
der sinnend vor der Waage steht.
Auf runzligem Gesichte
seh ich ein Lächeln, gut und still;
ob er die Brief gewichte
noch einmal kontrollieren will?
Kein, anderes tritt zu Lage,
enthüllt von meinem Wissensdurst;
was legt er auf die Waage?
Ein Päckchen aufgeschnittne Wurst.
Er prüft und freut sich dessen —
es wird ja wohl sein Frühstück sein,
vielleicht sein Mittagessen —
es stimmt genau, er packt es ein.
Die Waage wägt ganz sachte,
sie fühlt sich amtlich zwar bedrückt,
doch das Erlebnis brachte
ihr jenen Aufschwung, der beglückt.
Gasse aus. Ein alter Herr mit einem hecht-
grauen Zylinder, der unten vorbeiging, spürte
plötzlich, wie ihm das Wasser auf den Hut
trommelte und vorne über die Krempe tröpfelte,
als stünde er unter einer schadhaften Dach-
rinne. Er blickte nach oben, sah aber nichts,
hob die Fäuste und fluchte inS Blaue hinein.
„Fuendetodos ist meine Heimat", sagte Goya;
„und die deinige?"
„Zaragoza", sagte Consuelo, „ich stamme
aus Zaragoza und bin in San Pablo getauft
worden."
„Mit Wasser oder mit Wein?" fragte Goya.
„Pfui!" erwiderte Consuelo. „Wie kannst
du nur so reden?" —
Und so plapperten sie noch eine Weile fort,
bis Consuelo mit ihrem Fenster endlich fertig
war. Sie stieg dann auf einen Stuhl und
vom Stuhl zu Boden und verschwand plötzlich
in der Tiefe des Zimmers, als wären die
Dielen durchgebrochen.
Goya dachte zuerst an einen Scherz. Er
verhielt sich still und schwieg. Danach wurde
er ungeduldig und schrie laut und lauter: „Con-
suelo, hör mal! So hör doch, ich habe dir
noch etwas zu sagen!"
Nun tauchte das Mädchen wieder hinter
dem Fensterbrett auf, versteckte sich aber so-
gleich wieder. Francisco begriff, daß sie ihn
necken wollte. Er holte seine Arme herein und
duckte sich gleichfalls. Als er wieder auftauchte,
wippte das Mädchen hinab und so ging das
muntere Wechselspiel eine Zeitlang fort. Wenn
sie einmal zugleich aus der Versenkung kamen,
scholl ihr Lachen hin und her, bis sich Goya
entschloß, länger als vorher im Versteck zu
bleiben und wenn Consuelo glauben mochte,
nun sei er ganz verschwunden, wollte er wieder
emporschnellen und sehen, ob ihr Gesicht gleich-
gültig oder traurig wäre. Daran wollte er
ermessen, wie es um ihren Sinn bestellt sei.
Consuelos Mutter aber, eine biedere
Bäckersfrau, war sehr ergrimmt, daß ihre
Tochter solange an einem einzigen Fenster fege,
trat leise ins Zimmer, sah daS Spiel, riß
Consuelo fort, schob sie ins Treppenhaus und
versperrte die Türe. Dann schlich sie selbst ans
Fenster, stieg auf den Stuhl und um Francisco
eine nachdrückliche Lehre zu erteilen und ihn
ein für allemal von einem Angriff auf Con-
suelos Tugend abzuschrecken, drehte sie sich
um, hob die Röcke hoch und zeigte dem nun
strahlend auftauchenden Francisco ihr ziemlich
umfangreiches zweites Gesicht.
Goyas Herz gefror. Seine Wangen wurden
fahl. Entsetzt wich er zurück und schlug die
Hand wie geblendet vor die Augen.
Nie mehr scherzte er mit Consuelo und blieb
auch finster, wenn sie ihm zulächelte, um ihm
zu zeigen, wie wohlgesinnt sie ihm sei; denn er
hatte ihr falsches und trügerisches Herz er-
kannt. . . . - - • ~
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