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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 40.1935, (Nr. 1-53)

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Nr. 24
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JUGEND

40. JAHRGANG 1935/Nr. 24

VIELE WEGE . ..

Viele Wege locken in clie Weite,

Und an jedem blüht ein goldner Traum.

Immer geht der Tod an deiner Seite,

Doch du merkst es kaum.

Suchst die Wunder einer blauen Ferne
Zu erhaschen, wie das Kind den Wind,

Und du glaubst, daß alle hellen Sterne
Deine Brüder sind.

Eh die Wege, eh die Träume enden,

Neigt dem müdes Haupt sich erdenwärts;

Und dem Weggenosse greift mit harten Händen
An dein Herz.

Arnold Weiß-Rüthel

GEHEIMNIS UM VINCENTE

Q)on Serlarl S>ohl

Vincente war alt geworden, ehe das Ver-
hängnis ihn ereilte. Als wir ihn das erstemal
sahen — eS war in der verräucherten Taverne
des Don Pedro — erschien er uns märchen-
hast alt — wie der Überlebende einer ver-
blichenen Generation.

Damals saß er am Tische der Burschen,
deren braune Gesichter der unablässige Kamps
mit dem Meere verjüngte. Ihre Mußen keck
im Nacken und die Zigarette zwischen den
Zähnen, so hämmerten die Burschen Domino-
steine aneinander — wortlos und mit wilder
Kraft. Vincente beherrschte das Spiel, ohne
selbst einen Stein zu berühren. Mit spär-
lichen Gesten zeigte er den nächsten Zug.

Während die Fischerburschen die einfache
Kleidung ihrer Arbeit, zumeist nur Hemd und
Hose trugen, war Vincente in eine Decke ver-
mummt, die farbenreich, schmutzig und gefäl-
telt war. Aus seinem Kops saß ein roter Fez
mit grauer Kante, wie er aus den Balearen
längst nicht mehr getragen wird. Ein großer
Ring baumelte an einem Ohr. Die wässerigen
Augen, die sich in einem Gewirr von Fältd)en
zu verstecken schienen, und eine scharfe Linie
um den Mund zeigten, daß das Absonderliche
dieses Menschen nicht aus sein Äußeres be-
schränkt war.

Den Eindruck deS Absonderlichen hatte die
Erzählung deS Herrn Gemeindesekretärs noch
bestärkt, der an jenem Abend Gast in unserem
Kreise war. Vincente sei ein hoher Sechziger,
hatte der Herr Sekretär berichtet, und Fischer

wie alle; er besitze die Barke mit dem stärksten
Motor. „Ein deutsches Wunderwerk!" und
es folgte ein Strom von überschwenglichen
Worten der Bewunderung . .. Darnach fragte
einer von uns, ob Vincente maurischer Her-
kunft sei; seine Kleidung scheine sie anzudeu-
ten. „Wohin denken die Herren!" — Der
Sekretär wurde aufgebracht. — „Vor fünf-
hundert Zähren verschwanden die Mauren von
unserer Znsel; sie wurden mit Stumpf und

Stiel vernichtet,-mit Stumps und Stiel,

hombres! Der Alte hat die Marotten eines
Kauzes!!" Darüber hinaus war nichts zu er-
fahren, soviel wir auch fragten. Der Sekretär
schwieg. .. Damals glaubten wir, er wisse
nicht mehr über den Alten, der schließlich nur
eine Seele unter den zweitausend seines Be-
zirkes war. Später allerdings verstanden wir
den Grund des Schweigens: Vincente war ein
Lump und so nennt kein Spanier einen Lands-
mann vor Fremden.

Während unsres Gespräches war der Alte
aufgestanden und hatte das Zelt seiner Decke
hoch über den Kopf getürmt. Wortlos hob er
die Hand zum Gruß, und die Burschen dankten
wortlos — mit ihren blitzenden Augen. Dann
sd)lich er wie ein Schakal auö dem Schmutz-
licht der Fischerkneipe; nicht daS winzigste Ge-
räusch war zu vernehmen. Einige Wochen spä-
ter sahen wir ihn zum zweiten und wohl letzten-
mal. An einem Nachmittag, da alle Straßen
in der Sonnenglut wie erstorben lagen, kam
fernher ein vielstimmiges Murmeln auf. Don

Raffael TorreS, ein alter Fischer, ivurde zu
Grabe getragen. Dem einfachen Sarge auf den
Schultern von sechs Männern folgten die
beiden Geistlichen, die das „Misericordia“ eifrig
(angen, der Alkade, der Gemeindesekretär und
die Schöffen. Darnach kamen alle Männer
des Bezirks — in der strengen Ordnung von
Alter und Würde. Alle trugen schwarze Feier-
anzüge, die Kerzen in Händen und Zigaretten
im Mund. So gingen sie murmelnd im Zuge.

Und in seiner letzten Reihe — inmitten der
Jüngsten, die das zwanzigste Jahr noch nicht
erreicht hatten — ging Vincente. Auch dieses-
mal trug er das farbige Zelt seiner Decke über
dem Kopf. Zn seinem zahnlosen Mund hielt
er eine haardünne Zigarette und in der Hand
die Kerze.

Zn der Hand?! — Nein, das war keine
Hand mehr; ihr fehlten die Finger. Nur der
Daumen war unversehrt; die anderen Finger
waren Stümpfe von einer erstaunlichen Beweg-
lichkeit. Mit ihnen vermochte der Alte das
Wachshölzchen zu halten, als die Kerzen ent-
zündet wurden, die Zigarette, sein Taschentuch.

Nach der Beerdigung fragten wir ihn, wo-
her er die Verletzung habe, „Unfall", erwiderte
er mit einem sd)euen Lächeln, daS seine Seele
verschlossen hielt. Dann schlurfte er eilig davon.

An diesem Abend stritten wir bereits um
Vincent. Einer erklärte, der Alte fei „einfach
verrückt". — „Und warum lieben ihn die
Fifcherburschen?!" fragte ein anderer. „Sie
lächeln, wenn sein Name fällt, und dieses

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Arnold Weiss-Rüthel: Viele Wege...
Gerhart Pohl: Geheimnis um Vicente
 
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