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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 40.1935, (Nr. 1-53)

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https://doi.org/10.11588/diglit.6779#0402
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J U G

4 0. JAHRGANG

END

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Geschichte aus dem Bayerischen Wald

Q?on Qerl

ort, wo der Weg von der Heerstraße abzweigt,
hängt ein Brettchen am Pfahl. Es hat die Form
einer Hand, deren Zeigefinger nach Norden weist.
Die Inschrift meldet: „Zum Jägerwirt". Der Steg
dorthin, der durch die Schinderwiefe im Roten
Moor führt, ist mit Knüppeln belegt und schwankt
beim Betreten. Am Rande des Morastes steht eine
verknorrte, weißgraue Rane. Hier hakt bisweilen ein blhu auf, und
der Baumhackel trommelt gern an den dürren Stumpen. Mehrere
Marterln nennen die Namen derer, die vom Wege abkamen und im
Sumpfe erstickten. „Heilige Maria, bitt' für die armen Seelen!" lautet
der Text eines Schauerkreuzes.

Es geht in den Abend hinein. Die ersten Irrlichter, kaum sichtbar,
brennen mit violetten Flämmchen weit draußen im Moore. Von
ungefähr schreit kläglich der Auf, und unzählige Bißwürmer und
Wasserjungfern umflirren den Osterbach, der vom Schindermoor
aufgesaugt wird. Eine dünne Rauchsäule steigt kerzengerade aus
denn Schorn der Kneipe. Die HauSwände sind mit Wetterbrettchen
gepanzert, die Legschindeln des Daches mit Felstrümmern beschwert.
Ilm daS obere Stockwerk läuft ein hölzerner Schrot, von Trocken-
stangen überquert, wo Getreidestebe und Nudelbretter stehen. Darauf
sind die Schwämme am Dorren. An der Giebelseite stapeln gesprengte
Wurzelstöcke. Sie triefen von Kien.

Raver Kubitschek, der Jägerwirt, streift mit dem Daumen die Kruste
vom Docht der Hängelampe. Dann reibt er ein Zündholz an. Ein
Messingschimmer fliegt über die leeren Tische der Gaststube. Laut schleift
daS Perpendikel der Wanduhr. Kubitschek liest die Zeit ab und geht zum
Fenster. Er erwartet den Buchecker HiaS.

HiaS ist dreißig Jahre alt und von Beruf Holzfäller und Flößer.
Vor drei Jahren, als im Winter die Arbeit ruhte, trat er im Zirkus
Krone auf und zeigte das Kunststückchen, wie man einen mannsdicken
Baumstamm in einer halben Minute mit der bloßen Axt in zwei Teile
zerschlägt. Daneben ist HiaS ein hervorragender Schütze. Zum Andenken
an einen Meisterschuß baumelt an seiner blhrkette eine Kapsel, in der

unter GlaS das Auge eines Karpathengeiers schwimmt. Freilich, mit dem
Schießen hat es bei HiaS eine besondere Bewandtnis. Er gebaucht echte
Freikugeln, welche er alljährlich in der Christnacht zwischen elf und
zwölf blhr selbst gießt. DaS Metall dazu stammt vom Friedhofe. Dort
gibt eS immer noch alte Grabkreuze, die mit heiligem Blei im Steinsockel
befestigt sind.

Eine solch bleierne Freikugel, die, wie man sagt, ihr Ziel niemals ver-
fehlt, hat HiaS in der Tasche, als er jetzt beim Jägerwirt Eintritt, den
Hut mit der Spielhahnfeder über einen Nagel stülpt und Platz nimmt.
Kubitschek zwinkert fragend mit den Augendeckeln. HiaS nickt bejahend
mit dem Kopse. Laut aber spricht der Wirt: „Es sind Schindeln am
Dach!", womit hierzulande gemeint ist: Red' nicht, wir können belauscht
werden! Nebenan in der Küche hantiert die Magd, eine pralle, leut-
selige Böhmin.

HiaS zieht seinen Beutel und legt wortlos eine Freikugel hin. Kubit-
schek bekommt einen gierigen Blick. „Gib mir zwei!" flüstert er, aber
HiaS lehnt rundweg ab. „Es genügt eine", erwidert er, „sie trifft un-
bedingt!" --

Der Wirt entnimmt der Schanklade die vereinbarten Tauschgegen-
stände und schiebt sie auf die Ahornplatte: Eine Flasche Meisterwurz-
schnapS, ein halbes Pfund „Brasil" und zwei Ranken Geselchtes.

Illustriert von W. P. Schmidt

HiaS zieht das Griffeste, schneidet einen Ranken an und probiert
den Alkohol. Kubitschek trinkt mit und entwickelt mit leisen Worten
den Plan: Zuerst wird oben am Kraterberg daS Wehr geöffnet, dann
läuft in sieben Stunden der See aus. Wenn die großmächtigen
Wassermassen mit Getöse ins Tal stürzen, ist kaum mehr ein Kanonen-
schuß zu hören, noch viel weniger aber der Anschlag einer Büchse. In
diesen sieben Stunden also muß alles geschehen! Er, Hias, hat bei der
ganzen Sache weiter gar nichts zu tun, als den See abzulassen und sich
dann aus dem Staube zu machen. Er, Kubitschek, wird alles weitere
selbst besorgen, blnd es bleibt bei der Abmachung: Er das Fleisch und
HiaS das Geweih. Übermorgen kann er in der Nacht seinen Sechzehn-
ender abholen und gleich drüben.im Wenzelreiche an den Mann bringen.
Denn diesmal wird er, der Jägerwirt, den Bock nicht wieder fehlen,
dafür sorgt wohl die Freikugel!

Kubitschek versichert sich, daß niemand im Anzuge ist, rückt eine
Wandbank beiseite, hebt ein Fußbodenbrett und zieht eine Flinte hervor.
HiaS nimmt eine gefüllte Patrone und setzt seine Freikugel auf. Dann
läßt er sich daS Gewehr reichen und steckt das Geschoß in den Lauf. Im
selben Moment nähern sich die Schritte der Magd. Kubitschek stürzt
nach der Tür und HiaS will noch flink die Büchse in das Versteck

legen-Da ereignet sich etwas Unerwartetes. In der Eile kommt

HiaS an den Abzugshahn, es gibt einen Schnapp, und ein mächtigei
Knall erschüttert die Lust. Vor der geöffneten Tür steht die Böhmin
und macht große, erschreckte Augen. Kubitschek beißt wütend auf die

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Gert Lynch: Die Freikugel
Werner Paul Schmidt: Illustration zum Text "Die Freikugel"
 
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